Im Bann des wissenden Blicks
von Katrin Doerksen
Der Fantasie sind nahezu keine Grenzen gesetzt, wenn es um Einwirkungen auf einen menschlichen Körper geht. Filme des Spektrums zwischen Horror und Pornografie beweisen das eindrucksvoll. Auch Kenner der Comic-Reihe um Valentina werden es vorbehaltsfrei bestätigen. Die Einwirkungen auf Valentinas Körper sind handfester Natur. Ihr Leser wird während der Lektüre selbst gewissermaßen gefesselt sein.
Im Herbst 2016 hat der avant-verlag den zweiten Sammelband mit Valentina-Comics des italienischen Autoren Guido Crepax herausgebracht: Valentina Underground. Anders als der erste im Frühjahr 2015 erschienene Band bietet dieses Buch keine Einführung mehr in die Welt der Mailänder Fotojournalistin mit den masochistischen Vorlieben. Er stößt uns direkt tief hinein, wortwörtlich: angefangen mit der 1966er Geschichte Die Unterirdischen und vier weiteren Abenteuern, die an die Erlebnisse unter Tage anknüpfen.
Im ersten Band war mit Die Lesmo-Kurve die Geburtsstunde Valentinas erstmals auf Deutsch veröffentlicht worden, darin noch als Nebenfigur hinter dem Kunstkritiker und Superhelden Neutron in einer recht konventionellen Detektivstory nahe bei Verwandten wie der zwei Jahre älteren Agentin Modesty Blaise aus Großbritannien. Die Geschichte ihres Heranwachsens bekamen wir in Ciao Valentina! dargeboten. Nachdem nun die wichtigsten Stationen im Leben Valentinas im Grunde auserzählt sind, stürzt sich Crepax in den übrigen Geschichten darauf, die erschaffenen Welten auszubauen, in Fantasien zu schwelgen, die Möglichkeiten des Mediums zu weiten.
Wie eine Figur die Leidenschaften weckt
Valentina Underground ist ein Essay von Oreste del Buono vorangestellt, seit 1972 Chef des italienischen Comic-Magazin Linus, in dem die ersten Neutron- und Valentina-Strips erschienen. Sein Text ist sehr persönlicher Natur, umrahmt von Fotografien und Zeichnungen, eine schlingernde Liebeserklärung an ‚seine‘ Valentina. Er siezt den Leser, um ihn zwei Seiten später wieder zu duzen.
Das ist nicht direkt vergleichbar mit den analytischen Methoden Umberto Ecos, der in seinem begleitenden Essay zu Band Eins darlegt, wie Crepax in den 1960er Jahren die Organisation von Zeit und Syntax im Comic revolutionierte. Wenn sich aber beim Lesen etwas einstellt, dann ein Gefühl dafür, dass eine Comicfigur derart auf einen Menschen einzuwirken vermag, dass er sich auch Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen noch so leidenschaftlich über sie in Rage schreiben kann.
Wichtige Inspiration: die eigene Ehefrau, eine Linguistin
In den in Valentina Underground versammelten Geschichten hat Valentina Neutron bereits aus seiner Protagonistenrolle verdrängt und zu ihrem bedürftigen Liebhaber gemacht. In Die Unterirdischen schließt sie sich der Expedition eines Forschers an, der tief in den Höhlen unter der Wüste von Nevada menschliche Skelette gefunden hat. Nur, um es dort mit fabelhaften Riesenkreaturen der Tierkreiszeichen zu tun zu bekommen, mit den periodischen Schwankungen der Großen Waage, die die Geografie der Unterwelt durcheinander wirbelt. Und natürlich mit den blinden Rittern der Abgründe, menschenähnlichen Wesen, ihren Städten, Gebräuchen und kriegerischen Auseinandersetzungen.
Sogar eine ausgeklügelte Sprache sprechen die Unterirdischen, eigens auf Grundlage des Gotischen entwickelt von der studierten Germanistin Luisa Crepax – neben der Schauspielerin Louise Brooks die wichtigste Inspirationsquelle für die Figur der Valentina. Fotos zeigen eine ernsthaft dreinschauende Frau mit lackglänzendem Pagenkopf, die konzentriert die Kamera auf ihren Ehemann richtet. Er: der nach einem abgebrochenen Ingenieursstudium seinen Abschluss in Architektur macht, Spiele entwirft, Plattencover und Werbekampagnen illustriert. All diese Einflüsse reichern seinen Zeichenstil an, von den raffinierten Foltermaschinen, in die er Valentina spannt, über völlig plot-vergessene Panels, voll von lichtumspielten Tänzern und verschwitzten Musikern, bis hin zur Seitenarchitektur, die sich nicht an Gesetz und Ordnung zu halten gedenkt.
Ein losgelöstes Zeitgefühl bemächtigt sich Unserer
Viele Essayisten haben liebestrunkene Texte über den Zeichenstil in Valentina verfasst, über die Panels im CinemaScope-Format oder jene, die lediglich winzige Splitter sind. Die Zeitraffer, die die Handlung abspulen, um möglichst bald wieder in die sämige Zeitdehnung der nächsten Traumsequenz zu verfallen. Zeitsprünge wie aus dem Kino der Nouvelle Vague abgeschaut, ein Zoom auf ein geringfügiges Detail, die nächste Seite ein regelrechtes Wimmelbild. Auf der ersten Seite in Die Unterirdischen liegt Valentina auf dem Bett. Sie ist von der Seite zu sehen und es scheint, als würden die Holzpfosten am Fuß ihres Bettes einzelne Panels bilden, in denen man sich ihren lang gestreckten Körper fragmentarisch erlesen kann: die Füße zuerst, ihre Fesseln, dann die Beuge der Knie und die Oberschenkel, die Kurve ihres Rückens und schließlich das Gesicht: nachdenklich wirft sie einen letzten Blick in ihr Buch, bevor das Schrillen des Telefons sie aus der Lektüre reißt, der Ruf zum nächsten Abenteuer. Ein losgelöstes Zeitgefühl bemächtigt sich Unserer, das kein regelmäßiges Fortschreiten der Sekunden und Minuten mehr kennt. Selbst, wer in die Valentina-Comics nur hinein blättert, wird sich dieses Sogs nicht entziehen können und wer den zweiten Band vor dem Ersten liest, wird des Effekts ebenfalls nicht beraubt sein.
Nicht nur Valentinas nackter Körper lässt sich in diesem Zustand erkunden, auch viel vom Look und vom Geist der 1960er Jahre steckt in den Comics. Ebenso sehr wie einen Architekten muss man Crepax wohl auch einen Couturier nennen. Wo Modefotografen sich um schwarze Stoffe ob der zu scharfen Kontraste herumzudrücken versuchen, schafft er ganze Stilwelten aus nichts als Kontrasten. Schwarz und Weiß reichen ihm völlig für elegante Faltenwürfe, klobige Muster und feine Spitze, die ganze Palette von Louise Brooks über Monica Vitti bis zur Venus im Pelz. Mit den Textilien, die Crepax Valentina an den Leib schmiegt, lässt er sie auch ihre Identitäten über- und abstreifen. Das süße Mädchen schlummert in ihr und gleichzeitig widerspruchsfrei die androgyne Chimäre, die mondäne Lady, die kokette Verführerin und eben auch die unterwürfige Sklavin.
Sie ist es, die sich willentlich zum Objekt der Einwirkung auf ihren Körper macht, zu provozieren weiß. Und zu faszinieren: man möchte mit dem Finger den Verlauf der Seile entlangfahren, in deren Netz sie in Valentina und die Sowjets baumelt, man spürt die haarigen Beine der Riesenspinne, auf deren Rücken sie sich in Schwerkraft geknüpft träumt, riecht förmlich das lederne Geschirr, das ihr angelegt wird.
Eine Figur wird zur Autorin
In ihren SM-Fantasien ist Valentina genauso frei wie ihre Leser, die selbst entscheiden, in welcher Reihenfolge sie die wild dahin geworfenen Panels betrachten, wie lange der Blick verweilt, sie Details erforschen – oder eben die filigranen Foltermaschinen. Statt sich in eine passive Opferrolle zu fügen, erstrahlt Valentina als starke Figur ihrer Zeit, der späten 1960er Jahre, in denen alles Private immer auch politisch ist. Im Gegensatz zu vielen ihrer gezeichneten Zeitgenossinnen hat sie ein Innenleben, einen eigenen Beruf, darf sogar altern. Wenn sie den Leser einlädt ihren Fantasien zu folgen, wird sie selbst zu einer Art Autorin, die unterhält, flirtet, den Voyeuren vergnüglich Zucker gibt. Die Kamera in ihren Händen eine Manifestation des selbstbewussten Blicks zurück; auf dem Cover von Valentina Underground späht sie uns durch ein Fernglas entgegen. Sie war von Anfang an der eigentliche, der rechtmäßige Star: wo Neutron magische Paralyse-Augen braucht, muss Valentina einfach nur sie selbst sein, um uns zu bannen.
Katrin Doerksen
Zum Blog l’âge d’or von Katrin Doerksen geht es hier. Auf Twitter hat sie viele Kino-News und sie schreibt auch bei kino-zeit.de
Guido Crepax: Valentina Underground. avant-verlag, Berlin 2016, 224 Seiten, gebundene Ausgabe: 34,95 Euro
Zu „Valentina“ siehe auch die Eloge von Thomas Wörtche im CulturMag-Jahresrückblick 2015 (bitte etwas scrollen).