Geschrieben am 10. Dezember 2011 von für Bücher, Crimemag

Giovanni Battista Piranesi: Gesamtkatalog der Radierungen

Phantasmagorien

– Giovanni Battista Piranesis bizarr-labyrinthische Architekturbilder werden heute gerne als Illustration verstörter Seelenlandschaften verstanden. Sie stammen aus dem 18. Jahrhundert, wirken aber bis heute fort. Ein kleiner Exkurs von Friedemann Sprenger …

Von „le noir cerveau de Piranèse“ dichtete Victor Hugo 1856 in „Les Mages“ und tatsächlich hat der Venezianer Giovanni Battista Piranesi (1720–1778) mit seinem enormen graphischen Werk für erhebliche „Momente der Verstörung“ in der Kultur- und Geistesgeschichte Europas und beider Amerikas gesorgt, wie Norbert Miller das Vorwort zu seiner grandiosen Studie „Archäologie des Traums“ (1978) genannt hat. Vor allem Piranesis „Carceri d’invenzione“ von 1748/50 wurden eminent wirkmächtig, prägende Bilder bis heute. Halluzinatorische Radierungen über unendliche Räume, riesige Kuppeln, seltsame Maschinen, Treppen, die aus dem Nichts ins Nichts führen, megalomane unterirdische Stadtanlagen, bevölkert von seltsamen Kreaturen, Körpern und Figuren im sich im Vagen und Fernen verlierenden Raum, gesetzt in eine Nicht-Zeit aus Antike und wild gewordenem Rationalismus. Eine „ästhetische Potenzierung des Grauens“ (Norbert Miller), ein Kronzeuge der Schwarzen Romantik, der dankbar in den Drogenräuschen von Thomas de Quincey und Samuel Taylor Coleridge zitiert und verarbeitet wird. Piranesis einzigartige Melange aus penibelstem Handwerk und bizarrer Vision (das Prinzip wird später bei René Magritte und M. C. Escher wieder auftauchen) hat auch kunstübergreifend gewirkt: Kein Jorge Luis Borges ohne Piranesi und damit auch kein Pablo de Santis, dessen Architekturfantasien direkte Nachkömmlinge Piranesis sind, wie auch unzählige Filmausstattungen seit „Alien“ und „Blade Runner“, nicht umsonst zwei Filme von Ridley Scott, der es auch im „Königreich der Himmel“ ohne einen tinge of Piranesi nicht tut.

Gar schauerlich …

Natürlich steht Piranesi für noch viel mehr, auch seine Capricci und Groteschi sind geistes- und kunstgeschichtliche Brücken bis hinein nach Gotham. Der „Schauerroman“ und seine Kastelle, Klöster und düstere Gewölbe als Orte psychischer Devianz nähren sich von Piranesis bildgewaltigen Imaginationen, mit allen Implikationen der Zeit: Autonomie der Kunst, Gegenaufklärung, Entgrenzung, Psychologisierung, gothic, das Okkulte, das Böse in seiner ganzen Zeitgebundenheit und andere „Positionen der Negativität“. Piranesis Stiche, seine Ruinenlandschaft, seine bizarren, fantastischen und gleichzeitig detailversessenen Rekonstruktionen der Antike (römisch & griechisch), seine phantasmagorischen Welten sind die Illustrationen permanenter Gegenbildlichkeit par excellence.

Ironischerweise war der Architekt des Neubaus der Bank of England, John Soane, ein solcher Piranesi-Fan, dass er das „Bank Stock Office“ 1779 im Geiste Piranesis baute. Und selbst Bischof Mixa (ja, der …) hatte laut FR vom 21.04. 2010 mit Geld, das eigentlich für Kindergärten etc. bestimmt war, einen Piranesi gekauft – vermutlich um ganz besondere Momente der Verstörung zu genießen. Aber das nur am Rande.

Das graphische Gesamtwerk des rätselhaften Venezianers, über dessen Biografie nicht sehr viel bekannt ist, kann man jetzt wieder in einer wohlfeilen (Neu-)Ausgabe des Taschen Verlages nachlesen und nachbetrachten – sorgfältig ediert, mit einer knappen und kompetenten Einführung von Herausgeber Luigi Ficacci und editorischen Details, ohne jedes exegetische Gedöns.

Friedemann Sprenger

Giovanni Battista Piranesi: Gesamtkatalog der Radierungen. Hg. von Luigi Ficacci. 3-sprachige Edition, Deutsch von Günter Schwabe. Köln: Taschen Verlag 2011. 2 Bände im Schuber. 24 x 30.5 cm. 792 Seiten. 39.99 Euro (Erste Ausgabe Taschen, 2000). Verlagsinformationen zum Buch.

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