Geschrieben am 19. Januar 2011 von für Bücher, Litmag

Fritz J. Raddatz: Tagebücher, Jahre 1982-2001

„Was tun wir alle miteinander uns an?“

– Seit Jahrzehnten gehört er als Kritiker und Schriftsteller zu den produktivsten, umstrittensten und widersprüchlichsten Personen seiner Zunft. Nun hat Fritz J. Raddatz noch zu Lebzeiten seine Tagebücher veröffentlicht. Sie enthalten sehr persönliche Offenbarungen, Äußerungen, Gedanken und Reflexionen, auch wenn sie vom Gestus her spürbar auf Veröffentlichung zielen. Hier hat einer ohne Rücksicht auf Verluste aufgeschrieben, wie das Leben ihm und wie er in diesem Leben mitgespielt hat. Wend Kässens hat die fast 1.000 Seiten vermessen.

„Haus bestellt“. Das Grab in Keitum auf Sylt, „zwischen Suhrkamp, Avenarius und Baedeker; mehr kann man nicht verlangen …“ Das erfahren wir schon auf Seite 21 seines Tagebuchs, notiert am 16. September 1982 in seiner Wohnung in Kampen. Da ist Raddatz gerade 51 Jahre alt geworden, seit 1977 Feuilletonchef der Wochenzeitung Die Zeit, auf der Höhe seiner Karriere, die in dieser Funktion noch drei Jahre währen soll. Der „berufliche Herzinfarkt“ folgt 1985, als er im Verständnis seiner Vorgesetzten einen Fehler zu viel begeht. In einer Glosse zur Buchmesse hatte er Goethe über Frankfurts Bahnhof und Buchmesse zitiert – obwohl es zu Goethes Zeiten Bahnhof und Buchmesse noch nicht gab. Er war auf eine Parodie in der NZZ reingefallen und von einem Tag auf den anderen das Gespött der Kulturnation. Aber ganz wollte man bei der der Zeit auf die Edelfeder nicht verzichten und bot ihm eine Stellung als Kulturkorrespondent an – bis Ende 2001, da war er 70.

Jetzt, bei Veröffentlichung der Tagebücher, ist er 79. Der Verlag konnte für sie mit großem Leser- und, mehr noch, Öffentlichkeitsinteresse rechnen, auch wenn Raddatz bereits 2003 in seinem Buch „Unruhestifter“ Passagen daraus veröffentlicht hatte. Theo Sommer schrieb damals in einer Rezension: „Die Kämpfe und Krämpfe seiner Zeit in der ZEIT hätten sich wahrlich weniger gehässig schildern lassen. Ich denke freilich, Raddatz konnte nicht anders. So war er, so ist er: Genie, Geck, Galan, Paradiesvogel, Polemiker, Provokateur.“

Die gekürzte, aber, wie der Autor versichert, nicht bearbeitete Tagebuchauswahl umfasst die Jahre 1982–2001; sie beginnt mit dem Tod von Peter Weiss, kulminiert in der Wiedervereinigung und endet mit der als zu spät, nur durch den Einfluss von Günter Grass zustande gekommene und deshalb als schmählich empfundenen Aufnahme in die Darmstädter Akademie. Als Fazit beschließen Passagen aus dem 90. Psalm die Tagebücher dieser Jahre: „… wir verbringen unsere Jahre hin wie ein Geschwätz. Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn es köstlich war, ist es Mühe und Arbeit gewesen.“

„Erwische mich aber bei grotesken Parallelen“

Das Buch gibt Einblicke in die Berufs- und Privatsphäre dieses homme de lettres und Kunstsammlers; in die Welt der Journalisten, deren Hurenhaftigkeit er immer wieder beklagt, und der Medien; in  seine journalistische und schriftstellerische Arbeit, seine Gespräche und Auseinandersetzungen mit Freunden und Feinden, seine Begegnungen mit Kunst und Künstlern, mit den Schriftstellern der Welt und der Welt der Schriftsteller; nicht zuletzt in die Welt des Geldes und des Luxus, der Schönen und der Reichen, der Prominenz und der Macht, in der Raddatz sich wohlfühlt und die er zugleich verachtet. Ein Essen mit wichtigen Zeitgenossen folgt dem anderen. Zum Habitus des anspruchsvollen Ästheten gehören die Zweitwohnung auf Sylt, die Drittwohnung in Nizza und der Porsche, dem ein Jaguar folgt. Champagner ist das gängige Getränk. Beim festlichen Mahl an sorgfältig gedeckten Tischen dürfen Meißner Porzellan, Tiffany-Schälchen, Fadengläser und Messerbänkchen nicht fehlen. Auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten sitzt FJR, wie er seinen Namen häufig abkürzt, in der ersten Reihe, er nennt sich selbst einen eitlen Pfau. Eitelkeit scheint das Agens zu sein, das seine Leidenschaft und seinen Fleiß antreibt. Damit hat er ein beachtliches Werk hervorgebracht, mehrere Biografien, drei Romane, Erzählungen und zahlreiche Essays. Sie füllen ein ganzes Regal und spielen als Folie des Tagebuchs eine nicht unerhebliche Rolle.

Raddatz registriert das Missverhältnis von journalistischem und literarischem Erfolg: „Das Bedauern, zu viel Journalismus gemacht zu haben (des Geldes wegen, der schönen Autos und Hotels wegen), immer ‚den Roman’ im Kopf und im Plan, nie die Ruhe, die Prosa eben will.“ Die Nähe zum großen Vorbild Thomas Mann betont er bis in Gestus und Outfit, nimmt sich doch sogleich beschämt zurück. „Erwische mich aber bei grotesken Parallelen, z.B. dem An- und Nachstarren schöner Knaben- oder Männerkörper, von denen es hier (Kampen im August 1986) natürlich wimmelt, daß mir manchmal schlecht wird im Magen: kräftig-muskulös oder elfenhaft schmal, behaart oder blond nur mit Flaum am Körper — ein Wettlauf männlicher Schönheiten, meist nackt, mit herrlichen Schwänzen, Muskeln, Hüften.“

Raddatz gibt den empfindsamen Ästheten und einflussreichen Clown, vermag aber die eigene Rolle, die Selbstinszenierungen, die ausgestellten Ressentiments und den aus Kränkungen erwachsenen bösen Blick durchaus zu hinterfragen. Selbstironie kann man ihm nicht absprechen. Er fragt sich: „Bin ich, was Tucholsky >der Affe der reichen Leute< nennt – d.h., ‚mache ich mich ran’ an Berühmtheiten, die mit mir eigentlich nichts anzufangen wissen?“ Als „Der Mann ohne Mitte“ beschreibt er sich, ein narzisstisches Zwitterwesen, in seinem Widerspruch so verhasst wie geliebt, in keine Schublade passend, noch im Alter eine Herausforderung für konkurrierende Kollegen und geborene Chefs. Eine widerborstige Figur mit Ecken und Kanten, überangepasst und unberechenbar, voller Selbstliebe, aber auch voller Selbstzweifel.

„Who is who?“ des Kulturbetriebs

Das Spiegelkabinett dieses Tagebuchs liest sich wie das „Who is who?“ des Kulturbetriebs der vergangenen Jahrzehnte. Im Vordergrund die Gespräche mit den mal mehr, mal weniger nahen Freunden, voran der Maler Paul Wunderlich, die Schriftsteller Günter Grass (mit seiner Frau Ute), Rolf Hochhuth, Peter Rühmkorf, gelegentlich auch Walter Kempowski. Anlass dieser Begegnungen sind Geburtstage, Einladungen, gemeinsame Essen, die Themen sind die Literatur, die Künste, die aktuellen Lektüren, die – nicht selten als vernichtend empfundenen – Kritiken der eigenen Bücher, die Reisen, das Geld, die Kollegen. Immer wieder auch die Einsamkeit: „Da sitzt der berühmteste Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur, auf seine Weise der Nachfolger auf dem Stuhl von Thomas Mann – und hat kaum literarische Freunde, mit denen er so einen Tag verbringen möchte“, schreibt Raddatz im August 1987, zwei Monate vor Grass’ 60. Geburtstag. Wie sehr dieser Kreis der Freunde aber immer gefährdet ist, wird deutlich, als Rühmkorf den Büchner-Preis erhält. FJR notiert: „Inzwischen singe ich meine Provinz-Nummern, gebe Feste für Leute, von denen ich wie nach einem Restaurant-Besuch nie wieder höre, bzw. mit Gästen wie Rühmkorf, der mich noch nie in seinem Leben auch nur zu einem Bier eingeladen hat; ich weiß nicht mal, wo er wohnt: So oft war ich sein Gast … Dafür läßt er sich die Büchner-Preis-Laudatio von Wapnewski halten. Ein solidarischer Kollege!“

Mit dem sich in Drogen verlierenden Freund Thomas Brasch teilt Raddatz die „schöne Idee des WAHREN Sozialismus … Deshalb auch lieben Menschen wie Brasch und ich uns—weil wir diese unerfüllte Liebe noch immer in uns haben: nach einer Welt, die nicht so verlogen/verschleimt ist“. Dem „Deutsche(n) auf Widerruf“ Hans Mayer sind lange Tagebuchpassagen mit Breitseiten von Ablehnung bei gleichzeitiger Freundlichkeit im Umgang gewidmet. „Was für ein seltsamer Mensch dieser Hans Mayer … War/Ist er so sehr sein eigenes Sonnensystem, daß Jude- und Schwulsein ihm gleichgültig sind?“, schrieb er aus Anlass von Mayers 80. Geburtstag. Da überbieten sich zwei vom Leben Verletzte in Geltungssucht: mit ihren Publikationen oder den Einladungen von Institutionen und Berühmtheiten.

Eine große Rolle spielen die Reisen zu berühmten Schriftstellern, die Raddatz für seine umfangreichen Porträts und Gespräche aufsucht: von Emil Cioran bis zu Michel Tournier, von Arthur Miller bis zu John Updike. Nicht zu vergessen die Begegnungen mit der bildenden Kunst in den großen Museen von Berlin bis Paris, London und New York. Er weiß, wo seine Lieblingsbilder hängen, kennt zahlreiche Maler und Bildhauer persönlich, hat für seine eigene Sammlung einen Schenkungsvertrag mit dem Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe unterschrieben. „Der Gedanke ist schon sonderbar, daß es also nach meinem Tod eine Art FJRmuseum geben wird.“ Aber auch über den Besuch von Konzerten und Theateraufführungen wird der Leser informiert. Und sogar über den Kirchenaustritt am 17.12.1985.

„Die Leute spüren – du liebst die Künstler, und du verachtest die Medien“: Diesen Eindruck untermauern die Tagebücher. Sie führen uns noch einmal die Skandale und Umbrüche der 80er- und 90er-Jahre vor Augen. Den Tod von Uwe Johnson im Februar 1984 in seinem Haus in Sheerness an der Themse und den Einbruch des Stern-Redakteurs Tilman Jens in dieses Haus auf der Suche nach Dokumenten, die Auskunft geben sollen über das Scheitern von Johnsons Ehe. Dann Willy Brandts Rücktritt als Parteivorsitzender im März 1987 – „damit geht ein Stück ‚meiner Welt’ zu Ende“. Auch seine Kontroversen vor allem mit dem Verleger Gerd Bucerius, der die Degradierung des Feuilletonchefs bewirkte, und mit „Lady Macbeth Dönhoff“, wie Raddatz die Zeit-Herausgeberin, der er Selbstmythisierung und Machtgier vorwarf, böse nennt, begegnet man in den Tagebüchern wieder.

Konfrontation mit Kreativität, Fantasie, Fleiß und innerer Zerrissenheit

Mitte November 1989 geht auch FJR „Zonis gucken“. Seine DDR- und Ost-Berlin-Reise plant er mit seinem „Superauto“, „es ihnen zu ‚zeigen’, vorzufahren beim Stasi-Gefängnis oder vor der Uni oder meinem alten Verlag – dort, wo man mich gedemütigt, beleidigt, auch eingesperrt hat. Gewiß, es ist auch ein Stück lächerliche ‚I made it’-Ideologie des in New York reich gewordenen Sizilianers, der nun mit dem Ami-Schlitten durch Palermo segelt. Na und“. Am 14. November 1990 schreibt er: „Gereiztheit, Empfindlichkeit, Nervosität und Angst. Vielleicht zerreißt mich ja auch die politische Umstülpung mehr, als ich mir klarmache, auch die Frage, wieso ich selber nicht früher radikale Fragen – an Hermlin oder Arendt oder Heym – gestellt habe.“

An der Verantwortung des Schriftstellers hat Raddatz immer festgehalten, das kann man ihm nicht absprechen. In dieser Hinsicht verteidigt er sich gegen Vorwürfe und Unterstellungen von Grass. Es gibt im Tagebuch den Hinweis auf Molières „Menschenfeind“ in der Inszenierung von Jürgen Gosch. „Für mich insofern eigenartig“, schreibt FJR im April 1986 sehr offen, „weil ich in dem stets die anderen belehrenden, moralisierenden X mich wiedererkannte.“ Er verweist auf charakterlich widersprüchliche Künstler wie Genet, Céline, Ezra Pound, Brecht und Heiner Müller, zitiert den Satz „Nur das Werk zählt“ und fragt: „Ist meine These, Kunst habe auch etwas mit Moral zu tun, wirklich zu halten?“ Die Antwort auf seine rhetorische Frage bleibt er schuldig, „ein spannendes Essay-Thema“.

Als diesen Essay könnte man das Tagebuch lesen. Raddatz konfrontiert uns mit seiner Kreativität, seiner Fantasie, seinem Fleiß und der ganzen Zerrissenheit seiner Person. Er fordert den Leser heraus, sich in den Widersprüchen, Irrtümern und Verhärtungen, aber auch den Lieben,  Leidenschaften und Leistungen dieses Lebens zurechtzufinden, die Spannungen auszuloten, mit denen er sich konfrontiert sieht. Polemische Verurteilung des Buches ist leicht. Wer es aber genau und sensibel liest, wird auch sich selbst darin gespiegelt sehen. Wir alle stecken in dieser Zerrissenheit, müssen uns durch unser eigenes Dickicht schlagen. Und die Frage zu beantworten suchen, wie wir es mit der Verantwortung halten, mit der Moral im Umgang mit dem Nächsten.

Die Tagebücher diskutieren nicht zuletzt die Frage, die ganz am Anfang gestellt wird und sich durch das ganze Buch zieht: „Was tun wir alle miteinander uns an?“ Wir schauen einem hochinteressanten Menschen dabei zu, der für sich Antworten auf diese Frage gesucht hat und erkennen uns selbst in unseren Defiziten und Schwächen.

1992 konstatiert Raddatz: „Mein Adressbuch wird immer leerer.“ Und ein Jahr später:„Ich bin eine lächerliche Figur – ich führe ein Proust-Leben, Frühstück unter dem OrchideenBAUM bei Mozartmusik, und alles rieselt vor Samt und Cashmere und weißer Seide, selbst meine Morgengymnastik mache ich auf einer Cashmeredecke über einem schwellend-dicken Teppich – – -und heraus kommt nur Unbeträchtliches.“ Mit 70 hat er sich den Grabstein für sein Keitumer Grab gekauft. Mit dem Alter tritt zunehmend der Melancholiker hervor, aber hinter dem Selbstmitleid erkennt sein klarer Kopf die Wahrheit. Schon am 4. April 1995 schreibt er: „Ich BEOBACHTE nicht nur den Kulturverfall, ich bin ein TEIL DAVON.“

Wend Kässens

Fritz J. Raddatz: Tagebücher, Jahre 1982–2001. Reinbek: Rowohlt Verlag 2010. 942 Seiten. 34,95 Euro.