Geschrieben am 5. November 2011 von für Bücher, Crimemag

Frank Göhre: Die Kiez-Trilogie

Lesen! Dringend!

Drei Klassiker in einem Band – und eine kollegiale  Erstleserin. Anne Kuhlmeyer über Frank Göhres „Kieztrilogie“.

Mit diesem Buch sollte man ausnahmsweise hinten beginnen. In „Hamburger Verhältnisse, Hintergründe und Materialien zur Kiez-Trilogie“  am Ende des letzten Teils liefert der Autor auf knapp dreißig Seiten einige Ergebnisse seiner Recherchetätigkeit – eine ausgesprochen spannende Lektüre. Im Übrigen ist es eine Zumutung, über das Buch schreiben zu müssen, denn besonders nützlich scheinen Begeisterungsstürme wie – großartig! wunderbar! genial! – nicht. Aber ich will mich nicht beklagen nach der Freude beim  Lesen und dem tiefen Eindruck, den es hinterlassen hat. Stattdessen fange ich mal vorne an:

„Der Schrei des Schmetterlings“ (1986)

Die nackte Leiche einer Tänzerin wird in einer Hamburger Pension neben  einem komatösen Herrn fortgeschrittenen Alters, drei Umschlägen mit einer Stange Geld und einem Abschiedsbrief gefunden.  Augenscheinlich handelt es sich um einen Mord und einen Selbstmordversuch. Wenn dem so wäre, endete die Geschichte an dieser Stelle. Der abgeklärte Gottschalk, der verführbare Broszinski und der unsichere Fedder  ermitteln, weil denn doch nicht alles glatt zusammenpasst und der tote Vertraute der Ermordeten neue Fragen aufwirft …

Höchst erfreulich für mich als Leserin, denn Frank Göhre hat eine rasante, klar durcherzählte Geschichte entstehen lassen, Atmosphäre sparsam und sicher schraffiert, mit temporeichen Dialogen, der absoluten Stärke dieses Buches.  Die Geschichte selbst, eine von Prostitution, von kleinen und großen Dreckskerlen, von Leuten, die irgendwie durchkommen wollen und der zunehmenden Härte organisierter Kriminalität, entwickelt sich vornehmlich entlang der Gespräche ihrer Protagonisten. Und die sind vielschichtig und glaubwürdig, trotz oder wegen ihrer gebrochenen Lebensläufe. „Der Schrei des Schmetterlings“ ist ein Kriminalroman, der die Welt nicht in Gut und Böse einteilt, sondern von ihren Versuchungen, Täuschungen, Verstrickungen und Abscheulichkeiten erzählt. Die wenigen zarten Töne verblüffen zwischen den eisigen Realitäten und setzen spannende Kontraste.

Nicht alle erzählten Geschichten finden zu einem Ende. Gut so, denn ich hoffe auf sie in …

„Der Tod des Samurai“ 1989

Der „Samurai“, bürgerlich Franz Auer, wird in einem Lokal auf St. Pauli vom Stuhl geschossen. Schockiert und tatenlos muss  ein Handlanger der Kiezgröße „Emma“ Stobbe, dem Profikiller und seiner Flucht zusehen. Die Ordnung auf dem Kiez gerät ins Wanken. Unabhängig davon ereignen sich zwei brutale Morde – die Leichen werden schwer verstümmelt aufgefunden – die nur durch die Journalistin Jutta Wolf miteinander verknüpft scheinen. Dem ersten Leichenfund folgt eine ganz und gar großartige Szene, in der ihr Schmerz, ihre Verzweiflung, ihre Kaltblütigkeit (oder was sie dafür hält?) und ihre Verzweiflung über diese Fühllosigkeit so plastisch werden, dass ich einen Moment innehalten muss zwischen den kurzen, schnellen Sätze, Wortfetzen, Sprüngen, ohne dass ich zu irgendeinem Zeitpunkt die Orientierung verliere, gleichgültig, auf welcher Ebene erzählt wird.

Der unzufriedene, fleißige Fedder ermittelt einen Zusammenhang zwischen den Leichen und Jutta Wolf. In folgendem kleinen Abschnitt befinde ich mich mitten in jene Nacht:

„Gestern, im Dunkeln. Von ihrer Wohnung aus bis zum Pfad am Ufer. Gefolgt von dem Mörder …

Er schaute zum Haus hoch.

Die Haustür war offen …

Er hörte, dass sie da war …“

Nun bin ich nicht mehr sicher, aus welchen Augen ich schaue. Aus Fedders? Oder …? Sicher bin ich nie. Ich könnte noch viele solcher Textstellen, in ihrer Mehrdeutigkeit glitzernde Dingerchen, raus sammeln …

Einen darf ich noch:

Es geht um Prostitution. Unter anderem. Werner „Emma“ Stobbes Job sein halbes, mehr oder weniger kriminelles Leben lang. Angeklagt wurde er, nie ernsthaft belangt und der Verdacht liegt nahe, dass irgendwer in der Polizei … Aber das ist nicht sein Problem. Es gibt andere. Probleme und Konkurrenten.

Wie die LUNA zum Beispiel, deren Mitglieder hier unterwegs sind:

„… Uli steuerte den Wagen durch die schmalen Straßen. Die Mädchen und Frauen standen bibbernd in den Hauseingängen. Es goss in Strömen. Nur wenige Freier waren noch unterwegs. Norbert stellte die Heizung höher.“

Wenn hier die Machtverhältnisse nicht klar werden! Unklar bleiben sie zunächst den Ermittlern, die selbst verwickelt sind in alte Abhängigkeiten, Beinahe-Verbindlichkeiten und Fast-Denunziationen.  Vor ein bisschen Koks und Dope machen sie sich nicht bange. Aber Mitch, den seine Ermittlungen im eigenen Haus den Job und die Ehre gekostet haben, der säuft, der kein Blatt vor den Mund nimmt, dafür aber hinter sich schaut, immer, bringt ein paar Ex-Kollegen gehörig ins Schwitzen.

Der Kampf um Menschen und Drogen wird unübersichtlicher. Hatten sich die „Guten“ wie die „Bösen“ vor Jahren noch eingerichtet miteinander, werden Mitte der Achtziger die Claims neu abgesteckt, zum Erschrecken der Beteiligten mit einer bisher nicht gekannten Brutalität.

Ach, einen muss ich doch noch!

Es gibt klitzekleine Komischkeiten wie diese: Stobbe, der Oberlude und Kunstliebhaber, der Fontane liest und das immerwährende „weite Feld“  bei einem miesen Boxkampf zitiert  – das ist wirklich zum Kichern. Stobbe ist ein ganz harter Typ, denn er tut sich auch noch Proust an.

Jetzt höre ich aber auf, denn der Schluss ist beeindruckend, wie das gesamte Buch. Selbst lesen! Genau wie …

„Der Tanz des Skorpions“1991

„Zappa“ hat sie alle umgelegt, den Samurai, den Stone, Stobbe und fast die ganze LUNA-Bande. Sieben Morde will er begangen haben, steht jedenfalls in der Zeitung. Aber man weiß ja, wie das mit Zeitungsmeldungen ist. „Zappa“, das ist Karl Weber aus Bochum, trägt die Tätowierung eines Skorpions auf dem Arm und ist der bürgerliche Profikiller mit Familienanschluss von nebenan.  Er hat aber noch mehr im Ärmel, behauptet er. Aussagen gegen die Nummer Eins im Kartell mit den einträglichen Geschäften: Prostitution, Drogen, Glücksspiel.

Nun könnte man als Leser denken, was habe ich mit dem organisierten Verbrechen zu tun? Stimmt, nix. Jedenfalls nicht unmittelbar. Es sei denn, eines der Kinder verlässt das eigene, hypothekenschwere Reihenhäuschen, um sich die Birne mit Drogen zuzuknallen wie Sabine. Die junge Frau und ihre Mutter werden von zwei Unbekannten vor den Augen des gefesselten Weigel gefoltert und ermordet.

Fedder, der endlich eine Freundin hat und eine Verehrerin, die ihm das Leben schwer macht, kommt mit seinen Ermittlungen nicht voran und fühlt sich dennoch merkwürdig verpflichtet, sie weiter zu führen.

Gottschalk wird verlassen und begibt sich in eine Beziehung zu einer sehr jungen Frau.

Broszinskis Geliebte verschwindet auf unerklärliche und besorgniserregende Weise.

Meisterlich die Selbstverständlichkeit, mit der die Konflikte der Protagonisten abgebildet werden! Und zum Heulen gut in ihrer Intensität und Präsenz!

Hintergründe und Zeitgeschehen – der Auftritt der Beatles in Hamburg, der seriöse Bau des „Eros-Center“ mit nicht ganz so seriösem Geld, Erinnerungen an die wilden Endsechziger,  Splitter aus dem Leben von Stobbe und seinen Mannen – werden als Interviews, Zeitungsartikel oder Filmausschnitte verpackt: schnell, konkret und ohne viel Herumgerede. Man muss dran bleiben beim Lesen und gewillt sein, zu folgen, ohne zu wissen, wohin die Reise gehen könnte – ein riskantes Unternehmen und so gar keine Krimiabendgemütlichkeit.  Es ist der überhaupt nicht normale Wahnsinn, der in diesem Buch vorkommt, allerdings mit ganz normalen Leuten, ihren Bedürfnissen und Unfähigkeiten, ihrer Rigorosität, ihrer Angst, ihren Leidenschaften und Obsessionen.  Und es geht längst nicht alles gut aus … Ganz normal halt.

Also was jetzt? Nichts weiter.

Lesen! Dringend!

Anne Kulhmeyer

Frank Göhre: Die Kiez-Trilogie. Bielefeld: Pendragon Verlag 2011. 736 Seiten. 16,95 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Zur Homepage von Frank Göhre. Webseite von Anne Kuhlmeyer.

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