Mirakulöse Mollusken
Ja, kleine Schnecke
Besteige den Berg Fuji
Aber ganz langsam
(Kobayashi Issa, 1763-1827)
Ein ganzes Buch über Schnecken? Muss das sein? Gibt es noch langweiligere Tiere als diese schleimigen Zeitlupen-Kriecher? Ja, sehr viele sogar, das weiß man, wenn man Baileys faszinierenden 150-Seiten-Essay staunend und verzaubert aus der Hand legt. Dieses Buch ist der Beweis, wie etwa Großes aus absoluter Reduktion entstehen kann. Und welche Dynamik Langsamkeit entwickelt, wenn die nötige Ruhe da ist. Jan Karsten hat sich eingeschleimt.
Die Ausgangsposition ist eigentlich ziemlich traurig: Durch einen Virus „an den äußersten Rand des Lebens gedrängt“, verbringt Elisabeth Tova Bailey viele Wochen und Monate im Krankenbett, jede Bewegung ist mühsam, Aufstehen oder gar Rumlaufen ist unmöglich. Diese absolute Entschleunigung der Lebensabläufe schärft Baileys Aufmerksamkeit für die unmittelbare Umgebung, so auch für eine kleine Schnecke, die in einem Blumentopf neben ihrem Bett wohnt. Zunehmend fasziniert beobachtet sie das unterschätze Schneckenleben, gleichzeitig liest sie sich durch die Fachliteratur, erfährt von Naturforschern, Wissenschaftlern, Malakologen nach und nach alles, was über so ein Schneckenleben bekannt ist. Und das ist eine ganze Menge, denn Schnecken sind tatsächlich hochkomplexe Lebewesen und verfügen über vielfältige Fähigkeiten. Ein paar Fun Facts:
+ Schnecken sind taub, sie bewegen sich durch eine Geruchslandschaft, ihre sehr empfindlichen Fühler scannen permanent die Umgebung und können nachwachsen, wenn sie beschädigt werden
+ Es existieren 35.000 bekannte Arten und noch 10.000de undokumentierte, es gibt Schnecken in dieser Form seit 500.000 Jahren & damit 300.000 Jahre länger als den Homo Sapiens, fossil belegt sind ihre Vorfahren seit 530 Millionen Jahren (528 Millionen Jahre länger als die des Menschen). Sie können sich also vorstellen, wie extrem widerstandsfähig und anpassungsfreudig sie sind.
+ Schnecken halten Sommerruhe & Winterschlaf, teilweise jahrelang, wenn nötig
+ Sie kennen zwar nicht 100 Worte für Schnee, aber sie leisten sich eine sehr komplizierte Biochemie der Schleimproduktion, benutzen verschiedene Schleime für verschiedene Anlässe.
+ Schnecken betreiben ein sehr ausdauerndes und leidenschaftliches Liebesspiel, von oben bis unten vollgeschleimt und ineinander verschlungen beschießen sie sich mit sogenannten „Liebesdolchen“, mit Pfeilen aus Kalk, die sie sich gegenseitig in ihre Körper bohren. Wenn man sich dann noch daran erinnert, dass sie in ihrem bis zu 7 Stunden dauernden Liebestaumel als Zwitter abwechselnd den männlichen und den weiblichen Part übernehmen können, bleibt nur noch, vor Neid zu erblassen.
+ Und Kraftpakete sind sie noch dazu: einige Arten können das 50fache ihres Körpergewichtes hinter sich herziehen.
An einer Stelle beschreibt Bailey, wie ihre Schnecke regelmäßig ein Nest mit abgelegten Eiern aufsucht und dann nach und nach jedes der Eier in den Mund nimmt, um es vorsichtig einzuspeicheln, als Schutz gegen die trockene Zimmerluft. Und so fühlt sich auch der Leser: langsam, sorgfältig und liebevoll eingespeichelt mit immer mehr faszinierendem schleimigem Wissen über gehäuste Gastropoden und mirakulöse Mollusken. Bis am Ende die Erkenntnis schlüpft, wie wichtig es ist, regelmäßig mit geschärften Sinnen die vielen Lebenswelten außerhalb der täglichen, menschlichen Tunnelexistenz zu betrachten. Und wie viel Staunenswertes es da zu entdecken gibt.
Keine brandneue Erkenntnis, zugegeben. Aber wie entspannt und heiter Bailey diese serviert, wie leichtfüßig es ihr gelingt, zwischen der eigenen schweren Krankheitsgeschichte, konkreten Naturbeobachtungen, Faktenwissen und philosophischen Betrachtungen hin und her zu switchen, das ist ziemlich bezaubernd. Ein sehr meditatives, ein sehr fokussiertes Buch, Bailey lässt sich ganz und gar auf ihren Zimmergenossen ein, die Schnecke wird zur Gefährtin, die ihr hilft, den Lebensmut zu behalten. Durch eine fast Zen-hafte Konzentration aufs Wesentliche entsteht ein Sog, der einen schnell in die langsame Welt der Gastropoden hineinzieht. Und das kann halt gute Literatur: eine vollkommen fremde Welt erschließen und Dinge vermitteln, die berühren und die man nicht wieder vergisst. Wie eben das „Geräusch einer Schnecke beim Essen“:
Jan Karsten
Elisabeth Tova Bailey: Das Geräusch einer Schnecke beim Essen (The Sound of a Wild Snail Eating, 2012). Aus dem Amerikanischen von Kathrin Razum. Nagel & Kimche 2012. 176 Seiten. 16,90 Euro. Eine Leseprobe (PDF) finden Sie hier, zur Homepage der Autorin geht es hier.