Geschrieben am 14. Mai 2011 von für Bücher, Crimemag

Daniel Woodrell: Winters Knochen

Eine Blume im dunklen Land der Ozarks

– Der 1953 geborene Amerikaner Daniel Woodrell hat für seine Romane den Begriff Country Noir geprägt und als „a noir story set in rural America rather than an urban area” definiert. In Anspielung darauf und auf die Qualität seiner Romane schrieb die Los Angeles Times, dass Daniel Woodrell für die Ozarks das sei, was Raymond Chandler für Los Angeles war. Ende März ist der Independent-Film „Winter’s Bone“ in den deutschen Kinos gestartet, dessen literarische Vorlage Daniel Woodrells gleichnamiger Roman ist.  Ein  beeindruckendes, sehr lesenswertes Buch, wie Claus Kerkhoff findet.

Der Winter ist eine harte, lebensfeindliche Jahreszeit. Klirrende Kälte, lange Nächte und kurze Tage, an denen die Sonne das Leben kaum erwärmt. Unter einer Schneedecke hat sich die Natur zurückgezogen und hofft auf den Frühling, der noch viel zu lange auf sich warten lässt.

Der Winter ist noch viel härter, wenn man in bitterarmen Verhältnissen im Hinterland von Missouri lebt. Kaum Feuerholz, um das Haus warm zu halten; kaum Geld, um etwas zu essen einzukaufen; keine Arbeit, um Geld zu verdienen und keine Perspektive, das sich irgendetwas an dieser Armut in der Zukunft ändern würde.

So lebt die sechzehnjährige Ree Dolly. Sie kümmert sich um ihre pflege­bedürftige Mutter und ihre beiden acht und zehn Jahre alten Brüder. Ihr Vater Jessup ist untergetaucht, wie schon so oft in der Vergangenheit, wenn er mit der Justiz in Konflikt geraten war.

Doch dieses Mal ist die Sache ernst, bitter ernst: Jessup steht wegen Drogen­geschäften erneut unter Anklage. Das Haus hat er für seine Kaution verpfändet und, wenn er nicht vor Gericht erscheint, müssen Ree und ihre Familie ausziehen. Dann stehen sie wirklich vor dem Nichts.

Ree hat eine Woche Zeit, ihren Vater zu finden und ihn – tot oder lebendig – vor Gericht zu bringen. Eine Woche, ohne dass jemand sich um ihre Mutter und ihre Brüder kümmert, ohne dass jemand ihr bei der Suche hilft und ohne dass jemand ein Interesse hat, dass Jessup gefunden wird.

Ree beginnt ihre Suche auf sich allein gestellt und es wird eine lebensge­fährliche Odyssee, erzählt aus der Perspektive Rees, und Ree weiß nie mehr als der Leser.

Woodrell beschreibt in poetischer Sprache die Erkundung einer Landschaft und ihrer Bewohner. Diese Welt besteht aus baufälligen, alten Häusern, aus heruntergekommenen Wohnwagen und noch mieseren Behausungen, in denen die Menschen am Rande des Existenzminimums (und noch darunter) leben. Hier lebt der White Trash aus dem American Heartland; Menschen, die ihre Armut hassen, ihr aber nicht entkommen können. Doch es gibt auch große Farmen und Anwesen, die mit ihrem Wohlstand protzen. Hier leben solche, die sich im Hinterland von Missouri eingerichtet und es geschafft haben, ihr Auskommen mit erfolgreichen, aber illegalen Geschäften zu erzielen.

Die Menschen in den Ozarks sind über vielfältige verwandtschaftliche Linien miteinander verbunden; sie bilden Clans, die manchmal kooperieren und manchmal einander bekriegen. Die Regeln des Zusammenlebens sind komplex und orientieren sich nicht am Recht des Staates. Ree muss viel Lehrgeld bezahlen, um sie in Ansätzen zu verstehen.

Jessup ist verschwunden

Jessup Dolly ist verschwunden. Er gilt als der beste Meth-Kocher in den Ozarks. In der Vergangenheit ist er deswegen schon häufiger mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Doch dieses Mal ist es ernster. Wird er verurteilt, drohen ihm bis zu zehn Jahren Haft. Ist er deshalb verschwunden? Oder hat er eins der geheiligten Gesetze der Ozarks gebrochen und Verrat begangen? Muss er deshalb um sein Leben fürchten? Wie soll Ree ihn unter diesen Umständen finden?

Ree ist ein ambivalenter Charakter. Einerseits betreut sie aufopferungsvoll ihre Familie. Sie ist Ernährerin und Beschützerin und ersetzt ihren Brüdern den Vater. Sie weiß um ihre Herkunft und bereitet doch den Absprung vor. Ihr Traum ist die Army. Die soll ihr Sprungbrett sein, um aus der Armut heraus zu kommen. Ree will nicht so leben müssen wie ihre beste Freundin Gail. Die ist Mutter des kleinen Ned und mit einem Mann zwangsweise verheiratet, der sie nicht liebt und eine andere begehrt.

Als Figur beeindruckt Ree durch ihre emotionale Intelligenz und ihre Ausstrahlung, durch die Wärme, Hilfsbereitschaft und Zärtlichkeit, die sie anderen auch in Zeiten eines atemraubenden Drucks schenkt. Sie imponiert mit ihrer Hartnäckigkeit und Sturheit, sich auch durch lebensgefährliche Prügel nicht von ihrem Weg abbringen zu lassen. Sie will ihren Vater finden – tot oder lebendig, und nichts, das sich ihr in den Wegen stellt, kann sie stoppen. Ree ist eine Kämpferin, sie verkörpert das Fünkchen Hoffnung, dass sich auch in dieser erstarrten, geschlossenen Gesellschaft Dinge ändern lassen, dass Gewalt und Brutalität Empathie und Humanität nicht ersticken können.

Daniel Woodrell (c) Bruce Carr

Sprachmacht

Daniel Woodrell erzählt  facettenreich, zunächst ruhig dahin fließend, dann mehr und mehr verdichtend. Er nimmt sich Zeit, seine Figuren präzise zu charakterisieren und auszuleuchten, in klarer, anscheinend einfacher Prosa, eindringlich und stimmungsvoll, mit vielen überraschenden Bildern. Dazu Sprachmächtigkeit und Wortwitz,  schwarzer Humor und Esprit. Trotz aller Poesie ist es eine äußerst harte Sprache, in der eine nicht weniger harte Realität bis an die Schmerzgrenze beschrieben wird.

Seine Spannung bezieht der Roman nicht aus der möglichen Suche nach dem/den Mörder/n von Rees Vater, sondern aus der subtilen Enthüllung der gesellschaftlichen Mechanismen, die das Leben in den Ozarks reglementieren und das Schicksal der Menschen determinieren.  Zumindest beinahe …

Claus Kerkhoff

Daniel Woodrell: Winters Knochen (Winter´s Bone, 2006). Roman.  Deutsch von Peter Torberg. München: Verlag Liebeskind 2011. 224 Seiten. 18,90 Euro.
Verlagsinformationen zum Buch. „Winters Knochen“ bei KrimiZEIT-Bestenliste


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