Der größte Schmerz ist die Ungewissheit
In den 80er- und 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts versank Peru im Bürgerkrieg und mehr als 70.000 Menschen verloren im Kampf zwischen der Regierung und den Rebellenorganisationen „Leuchtender Pfad“ und „Tupac Amaru“ ihr Leben oder werden bis heute vermisst. Von Karsten Herrmann
In seinem Debütroman Lost City Radio widmet sich der 1977 in Lima geborene und heute in den USA lebende Daniel Alarcón diesem düsteren Kapitel seines Heimatlands. Er beginnt nach dem Ende des Bürgerkriegs, als die alten Dorf- und Stadtnamen ausgelöscht, neue, schöne Kulissen aufgebaut sind und das Land versucht, „zu vergessen, dass es je einen Krieg gegeben hatte“. Im Mittelpunkt steht Norma, die im Radio die titelgebende Kultsendung „Lost City Radio“ moderiert, in der verzweifelte Menschen nach ihren in den Bürgerkriegswirren verschwundenen Nächsten suchen. Normas Stimme wird zur Hoffnung eines leidenden Landes, sie war „ihr größtes Kapital, ihre Karriere und ihr Schicksal“. Doch auch in Normas Leben hat der Krieg eine nicht heilende Wunde geschlagen: Ihr Mann Rey, der der „Illegalen Legion“ (IL) zugerechnet wurde, verschwand spurlos im Dschungel: „Zehn Jahre waren vergangen, zehn Jahre endlosen, unverbrüchlichen Schweigens.“
Dann taucht eines Tages der 12-jährige Victor aus dem Dorf 1797 mit einer Liste von Verschwundenen auf, unter ihnen auch Rey. Gemeinsam mit Victor macht Norma sich auf die Reise in die Vergangenheit und setzt am Ende ein unüberhörbares Zeichen für die verschwundenen und verleugneten Opfer des Krieges.
Orwellsche Atmosphäre der Angst, der Repression und des Verrats
Daniel Alarcón zeichnet in seinem Roman das bewegende Bild eines zerrissenen und hier namenlosen Landes, in dem eine kalte und zuweilen fast Orwellsche Atmosphäre der Angst, Repression und des Verrats herrscht. Sinnbild hierfür ist das außerhalb von Raum und Zeit liegende staatliche Gefangenenlager „Mond“, in dem Verdächtige verschwinden und in Erdlöchern stehend dahinvegetieren.
Daniel Alarcón hütet sich in seinem melancholisch grundierten und irritierend poetisierenden Roman jedoch vor einseitigen und einfachen Schuldzuweisungen. Vielmehr spürt er in einem ständigen Szenenwechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit den tiefen seelischen Rissen und Verwerfungen im Leben der Beteiligten nach – gleichgültig ob Opfer, Täter oder Mitläufer. Die Ungewissheit über das Schicksal der Verschwundenen kristallisiert sich dabei als der größte Schmerz von allen heraus.
Karsten Herrmann
Daniel Alarcón: Lost City Radio. Roman. Aus dem Amerikanischen von Friederike Meltendorf. Wagenbach 2008. 315 Seiten. 19,90 Euro.