Gegen Affen wird nicht ermittelt
Nach elf Hardboiled-Romanen mit Lisa Nerz, der queeren Journalistin und Heldin, einem Gegenmodell zu den Frauenfiguren aus der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts wie z. B. Madame Bovary, stellt Christine Lehmann in „Die Affen von Cannstatt“ eine auf den ersten Blick viel konventionellere Hauptfigur in den Mittelpunkt, die eine Bildungsreise in die Untersuchungshaft unternimmt und am Ende doch auf die Hilfe von Lisa Nerz angewiesen ist. Elfriede Müller mag den Roman.
„Die Affen von Cannstatt“ ist ein beklemmendes Eintauchen in den deutschen Gefängnisalltag in der JVA Schwäbisch Gmünd und eine Studie über menschliche Entwicklungsfähigkeit unter harten Bedingungen. Camilla Feh, eine hübsche und eher unsympathische Stinoblondine, ist des Mordes an ihrem Ex bezichtigt und fast bis zum Schluss erfahren die Leser nicht, ob sie es wirklich getan hat. Als Tochter einer vermeintlichen Kindsmörderin scheint sie nur allzu verdächtig. Camilla kennt ihre Mutter gar nicht, erfuhr die gruselige Herkunft von ihren Adoptiveltern, einer schwäbischen Kaufmannsfamilie, die im Laufe der Handlung immer mehr verblasst zugunsten der prolligen und etwas dumpfen Mutter, die – hier wurde der Zufall etwas zu sehr bemüht – sich mit Camilla vorübergehend eine Zelle teilen muss. Camilla setzte sich mit diesem Erbe ihr Leben lang auseinander, und diese Last formte bis zur Haft ihren Charakter.
In Tübingen studiert sie Soziologie und stößt im Laufe ihres Studiums auf das Matriarchat der Bonobo Affen, die sie im Cannstatter Zoo beobachtet. Statt Gewalt machen diese Menschenaffen Sex, um Aggressionen abzubauen. An der Uni lernt sie den Aktivisten und Veganer Till kennen und lieben, durch den sie politisiert wird und Gramsci liest. Dieser, etwas später zum überangepassten Manager geläuterte Till, der darüber hinaus noch Camillas Chef wird, beendet sein Leben durch Gewalteinwirkung im Käfig der Bonobo Affen. Die Anklage ist sich unsicher, ob Camilla selbst Hand angelegt hat oder Till den sonst friedfertigen Affen überließ. Camillas Selbstbewusstsein wächst, während sie in der U-Haft ihre Verteidigung, ihr Haftbuch, verfasst. Das Schreiben hilft ihr, im Gefängnis nicht zu verzweifeln und ihren Standesdünkel zu überwinden. Camillas vorherige Überangepasstheit verwandelt sich im Zuge der Erkenntnis ihres eigenen Leben in Renitenz und verleiht ihr Überlebenskraft.
Bildung ist sinnvoll
Lehmanns neuer Roman bekräftigt, dass Bildung Sinn macht, dass das Studium des Justizvollzugsgesetzbuches Camilla hilft, ihre und die Rechte ihrer Mitgefangenen zu vertreten. Ihre anfängliche Ablehnung der Raubmörderinnen, Betrügerinnen und Drogendealerinnen verwandelt sich in Solidarität. Camillas Haftbuch ist ein spannender Roman, und Christine Lehmann hat es mal wieder geschafft, ihre Leser zu überraschen mit der eindringlichen Schilderung des Strafvollzugs, des alltäglichen Machismo, der Zoophilie, des Dschungels aller Art von Familienverhältnissen und der Zivilität der Bonobo Affen.
Elfriede Müller
Christine Lehmann: Die Affen von Cannstatt. Ariadne Krimi 1195. Hamburg 2013 (Argument Verlag). 285 Seiten. 12 Euro. Mehr zu Buch und Autorin. Infos zu Elfriede Müller & Europolar.
E-book: erschienen bei CulturBooks.