Geschrieben am 2. Juni 2008 von für Bücher, Litmag

Charlotte Roche: Feuchtgebiete

Zeige- und redefreudig

Feuchtgebiete ist ein äußerst gelungenes und abseits des Ekel-Hypes, der darum getrieben wird, überzeugendes Debüt. Von Tina Manske.

Die junge Helen Memel hat sich bei einer missglückten Analrasur eine schmerzhafte Analfissur zugezogen und muss nun operiert werden. Danach liegt sie als Schmerzensmädchen mit viel Watte und Mull im Hintern im Krankenhausbett und hat genug Zeit, sich über den ihrer Meinung nach nicht existierenden Gott und ihre eigenen sexuellen Erlebnisse Gedanken zu machen sowie über ihre verkorkste Familie. Schon früh merkt man, dass sie bei ihren monologischen Schilderungen nicht zimperlich ist: „Hygiene wird bei mir klein geschrieben.“

Während das Klinikpersonal um sie herum darauf wartet, dass sie endlich Stuhlgang hat, erfährt man, dass Helens Mutter sich und Helens Bruder offensichtlich umbringen wollte, als dieser noch ein kleiner Junge war. Diese tragische Geschichte wird in der Familie jedoch totgeschwiegen, wie Helens Mutter alles totschweigt, was irgendwie mit Sexualität oder Körperlichkeit in Verbindung gebracht werden könnte. Nur zu verständlich, dass sich Helen gegen so viel Doppelmoral mit einer expliziten „Zeigefreudigkeit“ und derben Wortwahl wehrt.

Genau dieser Aspekt der Erzählung wurde von den Kritikern zwiespältig aufgenommen. Man hat Charlotte Roche vorgeworfen, lediglich auf den Schockeffekt zu setzen und die literarische Qualität ihrer ersten Erzählung zu vernachlässigen. Dazu ist zu sagen: in „Feuchtgebiete“ spricht die meiste Zeit eine Person und die ist gerade mal 18 Jahre alt und hat viel zu viele Gedanken auf einmal, als dass sie diese in eine literarische Form bringen könnte – oder auch nur wollte. Die Rollenprosa der Figur Helen ist Roche wunderbar gelungen. Helen geht es darum, Inhalte zu transportieren, Dinge beim Namen zu nennen (oder ihnen zum ersten Mal einen Namen zu geben!) und ihre Geschichte möglichst haarklein und authentisch zu erzählen, nicht darum, damit ein Literaturstipendium zu gewinnen.

Trotz aller Ekelei gibt es in „Feuchtgebiete auch sehr viel zu lachen. Pfleger Robin muss zum Beispiel Helens Arschwunde fotografisch festhalten, was eine sehr lustige Szene ergibt. Auch die kritischen Einlassungen zur Sexualmoral sind zum Teil äußerst erheiternd. Und nicht zu vergessen: Helen Memel ist im tiefsten Herzen eine Feministin. Schlimm genug, dass man in der öffentlichen Diskussion bei Feminismus immer nur an Alice Schwarzer denkt – es gibt eine Menge Alternativen, und dieses Buch nennt einige davon.

Keine Frage: Frau Roches Drastik ist nichts für schwache Nerven. Die Selbstverletzung Helens durch einen Krankenhausbettbremsengriff wird man nicht so schnell vergessen. Spätestens an dieser Stelle müsste auch dem uneinsichtigsten Leser aufgehen, dass eine allzu innige Identifikation mit der Heldin von der Autorin nicht gewünscht ist – dazu handelt sie dem gesunden Menschenverstand einfach zu sehr zuwider. Dass Roche den Text selber liest, ist ein Gewinn, denn sie gibt Helen die nötige Mischung aus aufgeklärter Auflehnung und mitleidsheischender Naivität. Dass in der Figur der Helen natürlich auch ein wenig Charlotte steckt (wie in jeder literarischen Figur immer auch ein wenig vom Autor mitschwingt), kann man an der Episode mit der vorgetäuschten Blinddarmentzündung erkennen: ich kann mich erinnern, dass Roche diese Geschichte schon einmal als ihre eigene erzählte in einer MTV- oder VIVA-Sendung damals.

Alles in allem ist „Feuchtgebiete ein äußerst gelungenes und abseits des Ekel-Hypes, der darum getrieben wird, überzeugendes Debüt. Das Ende des Ganzen kann man jedenfalls gar nicht genug loben: wie Roche hier ihrer Heldin ganz lässig eine bittere Abrechnung mit der Familie mittels eines sehr witzigen (also geistreichen) und eindrucksvollen Bildes gönnt, das muss man gelesen/gehört haben. Den Schlusspunkt setzt eine wunderbare Wiedergeburt durch eine Krankenhaustür. Da kann man auch als Hörer nur noch schreien oder kreischen – vor Begeisterung.

Tina Manske

Charlotte Roche: Feuchtgebiete. Gesprochen von Charlotte Roche. Ungekürzte Lesung. Audio-CD, Laufzeit: ca. 350 min. 19,95 Euro.