Erinnerungsspur aus einzelnen Bildern
„einmal muss ich über weiches Gras gelaufen sein“ – es ist ein versonnen klingender, in der Luft hängender Satz, mit dem Carolina Schutti ihr neues Buch betitelt hat (2010 debütierte sie mit dem Roman „Wer getragen wird, braucht keine Schuhe“). Ein solcher Satz kann nur von jemandem stammen, der, mit Peter Rühmkorf zu sprechen, im Vollbesitz seiner Zweifel ist. Dies trifft auf Maja zu, die Hauptperson in diesem stillen Drama über Heimatlosigkeit und über den Verlust der Sprache der Kindheit und die ungestillte Sehnsucht danach. Von Meinolf Reul
Majas Biografie umspannt etwa den Zeitraum einer Generation und wird in den fünf mittleren Kapiteln des Buches chronologisch erzählt. Die in der Ich-Form gehaltenen Rahmenkapitel weisen inhaltliche Überschneidungen mit diesen auf, jedoch markieren sie den entrückten Ausguck, von dem aus Maja ihr bisheriges Leben überschaut. Die Bauform des Romans imitiert das Puppe-in-der-Puppe-Prinzip: „Es gibt verschiedene Babuschkas. Manche gleichen sich bis in die feinsten Details und manche haben unterschiedliche Bilder auf dem Bauch. Auf jedem Bauch ein anderes Bild und man weiß sofort, welche Geschichte dazugehört. Und die große Babuschka hält alle Geschichten zusammen wie der Umschlag eines Märchenbuches. Das kleinste Bild sollte man sich besonders genau anschauen […].“ Rückblicke und (imaginierte) Flashbacks weiten die erzählte Zeit auf die Generation der Eltern und Großeltern aus, Zeiten der Unruhe und Bedrohung werden in äußerster Prägnanz aufgerufen, lecken wie kleine Flammen aus der Aschenglut.
„Als kleines Kind nämlich muss ich über weiches Gras gelaufen sein, ein Mal zumindest, denn nach Jahren gab mir die Tante ein Foto, das mich mit meiner Mutter in einem Park zeigte.“ Ein Beweisstück also existiert, indes knüpft sich keine Erinnerung daran. Bei der Tante, die in einem Dorf lebt, auf das sich „mehr als das halbe Jahr“ der Schatten legt, wächst die kleine Maja auf. Es ist dasselbe Dorf, in das einst ihre aus Weißrussland stammende Mutter gekommen war, und das sie wieder verlassen hatte, um allein mit ihrem Kind in der Stadt zu leben. Die Mutter ist gestorben, den Vater gibt es noch, doch beginnt er ein neues Leben an einem anderen Ort, „gerade als Maja sich daran gewöhnt hatte, Papa zu ihm zu sagen“.
Die Tante ist herb, kühl, lieblos, latent grausam vielleicht. Statt ein Wort zu verlieren, ruckt sie mit dem Kinn, um Maja zu bedeuten, sie solle sich rühren. Im Übrigen kommen Kurzsätze von ihr wie: „Steh nicht in der Tür herum“, „Danke sagt man“, „Hast es nicht leicht, Kind. Und jetzt iss“. Emotionale Verstocktheit charakterisiert auch die meisten der Dorfbewohner. Nur bei Marek, einem ehemaligen polnischen Zwangsarbeiter, und bei ihrer besten Freundin und Jugendgefährtin Fini bekommt Maja das Gefühl, „dem Schatten entkommen zu sein“.
Eines Tages bricht sie mit Finis älterem Bruder Erich in die Stadt auf, um dort mit ihm ein gemeinsames Leben zu beginnen. Doch Erichs „unentwegtes Räuspern, ohne etwas zu sagen“, das „nach einem nervösen Bellen“ klingt, lässt echte Nähe nicht aufkommen. Da ist Erichs bester Freund Bert, in dessen Firma sie eine Anstellung findet, aus anderem Holz geschnitzt.
Aufblühen der Wörter
„Das Gefühl einer Sprache ist die einzige Wurzel, die mir geblieben ist“, sagt Maja rückblickend und macht sich schließlich auf, um dieser Spur zu folgen. Auf- und Abblenden prägen das letzte, „Frau Holle“ überschriebene Kapitel. Der Text gewinnt darin eine Rhythmisierung, die inhaltlich verknüpft ist mit dem Rattern des Zuges, in dem Maja sitzt, sich aber auch mit einem Wackelkontakt assoziieren lässt (der in einen steten Kontakt überzugehen verspricht), mit der „Unregelmäßigkeit“ in Mareks Stimme, die Maja „an früher, an ganz früher erinnert[e]“, oder mit der Bewegung der Augäpfel im Schlaf. In die „Daunenhöhle“ des Bettes nämlich hatte sich das Kind gern zurückgezogen, und die erwachsene Maja bekennt: „Ich habe gehofft, in Träumen meiner Muttersprache zu begegnen, doch selbst wenn, könnte ich doch nichts davon über das Aufwachen hinaus in den Tag retten, ich bin nicht einmal sicher, ob man in Träumen spricht.“
Das Motiv der Sehnsucht (die Babuschka, mit der Maja als Kind spielte; die Matrjoschka, die sie als Erwachsene geschenkt bekommt, die „hellblauen Blumen“ darauf, Echo auf die „blaue Blume“ von Novalis; das Sichaufsagen erinnerter Worte) kontrastiert Schutti mit jenem der Sucht. Sucht, die ein Ausweichen bedeutet, eine Übersprungshandlung ist, die an die Stelle einer notwendigen, aber vermiedenen Suche tritt. „Wir sollten weniger rauchen“, sagt Maja, erst zu Erich, dann zu sich selbst. „Irgendetwas stimmt nicht mit dem Satz, sie hätte ihn schon längst vergessen müssen, aber er ist herausgefallen aus den übrigen Sätzen, am Wir hängengeblieben und an der Zukunft.“
Gewiss verlangt ihr nach Rauchen, doch ihr eigentliches Verlangen ist ein anderes, und in dem Maße, wie sie sich diesem stellt, hellt sich der Text immer mehr auf, mündet schließlich in eine allumfassende Poetisierung der äußeren Welt, in der das „Unkraut, das sich gelb leuchtend an den Bahndamm krallt“ ebenso seinen Platz hat wie die „jahrtausendealten Wälder, die sich wie dichter Bisonpelz über das Land legen, narbendurchzogen“.
Das Aufblühen der Wörter, das sich hier anzeigt, entfaltet eine umso stärkere Wirkung, als Schutti sich insgesamt eines gezäumten, zurückhaltenden Duktus’ bedient. Sie gestattet sich keine rauschhaften Passagen, keine Abschweifungen, und es liegt überhaupt kein Nachteil darin – der Roman erzielt gerade in ihrem Verzicht auf vordergründige Virtuosität eine große atmosphärische Dichte, erschafft eine Gegenwärtigkeit, die beredt ist auch ohne viele (oder große) Worte. „Mein Schweigen sagt alles auf einen Blick“, heißt es beim französischen Dichter Jean Tardieu. Diese stille Erfülltheit gibt es auch bei Carolina Schutti.
Maja, die beklagt, dass sie mit ihrer Mutter zugleich ihre Sprache verloren habe, „die Einschlafsätze, die Trostsätze“ – am Ende wird sie doch „die Mutterwörter und die Kindeswörter“ wiedergefunden haben.
Meinolf Reul
Carolina Schutti: einmal muss ich über weiches Gras gelaufen sein. Salzburg: Otto Müller Verlag 2012. 144 Seiten. 18,00 Euro