Geschrieben am 22. November 2014 von für Bücher, Crimemag

Bloody Chops

beil123

Bloody Chops – schnell, auf den Punkt, rare …

Heute choppen Klaus Kamberger (KK) Leonhard M. Seidls „Letzte Ausfahrt Giesing“, Thomas Wörtche (TW) Andrea Grosso Cipontes und Dacia Palmerinos Comic-Adaption von Friedrich Schillers „Geisterseher“ und Alf Mayer (AM) Charly Wellers „Eulenkopf“.

Seidl_Leonhard_Letzte_Ausfahrt_GiesingZahnstocher ins Ungewisse

(KK) Man könnte sich das etwa so vorstellen: Ein gestandener Schreibkünstler, der sich schon hier und dort dichtend versucht hat – prosaisch, theatralisch, verseschmiedend – beschließt, erfolgsorientiert in einen Mainstream einzumünden und gleichzeitig zum Behuf eines Alleinstellungsmerkmals den ganz, ganz neuen Ton zu finden, will sagen: ausgelatschte Wege tunlichst zu meiden. Welcher Mainstream? Krimi. Neu dabei? Die Sprache. Ausgelatscht? Schwedoides, Psycho, Serienkill, Kettensäge.

Ja, und Regionales geht auch längst nicht mehr, es sei denn, einer will sich extra mit CrimeMag & Co. anlegen. Was aber gerade noch geht, ist er Kiez. Unser Schreibkünstler stammt aus München, Unterabteilung Giesing, also spielt sein Krimi dort, und zwar als echter Heimatroman. Aber in Giesing geht es leider gar nicht mehr heimelig zu. Bauspekulanten wollen die Alteingesessenen vertreiben. Wer sich wehrt, wird einbetoniert, zur Not auch bei lebendigem Leibe.

Und jetzt kommt es, das Neue. Jeder soll verstehen, was (und wie) die Leute dort reden, und deswegen bemüht unser Schreibkünstler nicht etwa den echt bairisch-münchnerische Zungenschlag, sondern bellt Bildzeitungsdeutsch oder stammelt Werbedeutsch für halbe Analphabeten. Das klingt dann so: „Ich brülle. (Absatz) Welche! Drecksau! War! Das? (Absatz) Keine Antwort. (Absatz). Nirgends. (Absatz)“

Indessen macht unser Schreibkünstler nicht nur dort Anleihen, wo Sprache aufs scheinbar Allgemeinverständliche herunter misshandelt wird. Vor seinem inneren Auge tanzen wohl auch die coolen Sprüche unserer großen Genre-Meister, und die gilt es zu kopieren (wenn nicht gar zu toppen): „Hier stehe ich, warte und treibe mein Unwissen wie einen Zahnstocher ins Ungewisse dieser verflixten Nacht.“ Noch’n Gedicht? „Mein Kopf gleicht einem stinkenden Männerklo.“ Noch eins? Besser nicht … Sonst landen wir nur noch bei so etwas wie „vollblondigen Businen“ und „Achselhaardetonationen“ – was immer das bedeuten mag … Mario Barth lässt grüßen.

Ganz vorne, wo sonst die Widmungen oder sonstige Epigramme stehen, hat unser Schreibkünstler eine Warnung platziert: „Hör auf zu lesen, bevor du kotzt.“ Man sollte das ernst nehmen. Es steht auf Seite 6, und dann folgen noch ca. zweihundertfünfzig …

Leonhard M. Seidl: Letzte Ausfahrt Giesing. Kriminalroman. 253 Seiten. München: ars vivendi 2014. 9,95 Euro. Verlagsinformationen zu Buch und Autor.

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geisterseher1Geisterfidelwipp

(TW) Eines der merkwürdigsten Fragmente der deutschen Literatur ist Friedrich Schillers Lieferungsroman „Der Geisterseher“, der sich von 1787 bis 1789 durch die Hefte der Literaturzeitschrift „Thalia“ quälte und auch als Buchausgabe 1792/1798 unvollendet blieb. Schiller mochte den Text, den man, wenn auf Traditionssuche, gern als ersten deutschen Politthriller bemüht, so gar nicht – „welcher Dämon hat ihn mir eingegeben?“ Tatsächlich ist eine wirre Mischung aus Verschwörungs- und Schauerroman herausgekommen, in dem finstere Mächte (Jesuiten, Geheimbünde, „der Armenier“ und andere lustige Gesellen mehr) auf einen protestantischen Duodez-Prinzen mit allerlei hochkompliziertem Spuk und Geisterfidelwipp einwirken, um ihn zur Konvertierung zum Katholizismus zu bewegen.

geister2Oder so. Schiller (ach, schon damals das Elend mit den Hochliteraten, wenn sie „populär“ schreiben möchten, weil dort die Kohle sitzt – der gerade klamme Meister wollte mit „dieser Schmiererei“ richtig Geld verdienen) hat selbst nicht mehr durchgeblickt und nicht so direkt gewusst, wie er aus der Nummer rauskommt. Seine verschiedenen „Vollender“, darunter auch der notorische Hanns Heinz Ewers, genauso wenig, by the way.

Eigentlich überhaupt niemand. Und schon gar nicht die Szenaristin Dacia Palmerino und der Zeichner Andrea Grosso Ciponte, die den „Geisterseher“ in einen prächtigen, opulenten Comic-Band verwandelt haben. Aber sie haben aus dem rätselhaften Trümmer das Beste gemacht: ästhetisch überwältigende Schauwerte. Wer braucht schon eine konsistente Handlung, wenn die schönen Bilder alles retten.

Andrea Grosso Ciponte: Geisterseher. Nach Schillers „Geisterseher“ adaptiert von Dacia Palmerino und gezeichnet von Andrea Grosso Ciponte. Aus dem Italienische von Myriam Alfano. Frankfurt: Edition Faust 2014. 82 Seiten. 20 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Fotos: Faust-Kulturshop

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Weller_EulenkopfKommissar Worschtfett und die Manos von Gießen

(AM) Wenn am Eulenkopf in Gießen jemand mit durchschnittener Kehle in einem Gully steckt, einen Feuerwerkskörper im Hintern, dann braucht es einen Ermittler, der mit manischen Gepflogenheiten vertraut ist. Eulenkopf, das ist der Name eines Viertels, das in den 1970ern als jener soziale Brennpunkt bekannt wurde, wo Horst-Eberhard Richter sich mit seinen Studenten für Anwohner engagierte. Die Gegend auf der anderen Seite der Lahn war wegen einer alten Fabrik als Gummiinsel verschrien, hatte keine Schule. In der Arbeitersiedlung ließen sich Schausteller nieder, ambulante Gewerbetreibende, Altwarenhändler, Roma und Sinti. Ihre Sprache ist bis heute, was man in Gießen „Manisch“ nennt, ein Verständigungsidiom unter Bettlern, fahrendem Volk und kriminellen Subkulturen jenisch-rotwelschen Ursprungs.

„Ist das richtig: der Tschabo ist mulo? Der Mann ist tot, wie man auf Manisch sagt?“, fragt ein Polizist den Kommissar. Ja, knurrt der und blafft zurück: „Können Sie mir sagen, wie lange der Tschabo schon mulo ist?“ Überwiegend sind es dann (leider) nicht-manische Zeugen und Beobachter, die Autor Charly Weller aufbietet, um aus den Facetten von rund 40 verschiedenen Stimmen einen nicht ganz alltäglichen Kriminalroman mit beträchtlicher Bodenhaftung zu entwickeln. Der Mord am Chef eines Managerseminars entblättert sich schichtweise. Charly Weller kennt sein Gießen und Wetzlar (WZ steht für „Wilde Zone“), führt uns etwa in den Ortsteil Heuchelheim, wo die bei Spionagediensten beliebte Kleinbildkamera Minox gebaut und wo Til Schweiger geboren wurde. (Der zeigte bei der Buchpremiere in Gießen, dass er des Manischen noch mächtig ist.

Einer der erzählerischen Kniffe Charly Weller ist es, die Hauptfigur, den ermittelnden Kommissar Roman Worstedt – von den Manos hartnäckig Kommissar Worschtfett genannt – gar nicht selbst zu Wort kommen, sondern ihn und seine Methoden von anderen schildern zu lassen. Der Zustand seiner Verwahrlosung zeigt sich etwa, als er mit einer Dose Ravioli in der Hand bei der attraktiven Witwe des Mordopfers klingelt und um einen Öffner bittet, Aufwärmen würde den Nährwert ja nicht weiter erhöhen.

Sprachwendungen wie „die Büchse hinhalten“ für eine untreue Ehefrau oder „schauen, ob etwas zum Löten drin ist“, für einen fremdgehenden Ehemann, gehören auch dazu. Jetzt aber mal begoni, stöhnt da eine der Stimmen aus dem Buch, mal langsam. Tschundekrempel, also Unwert, ist dieser Krimi bestimmt nicht. Charly Weller, der bei an die 50 Fernsehinszenierungen in und um Frankfurt Regie führte, bei „Die Kommissarin“ einen jungen Til Schweiger als Assistenten von Hannelore Elsner ins Bild setzte, ist mir als Filmemacher unvergessen mit seinem „Schlammbeißer“ von 1991, der von einer langen Frankfurter Pokernacht handelt. Mit einer alten handaufgezogenen Bolex selbst gedreht, selbst geschnitten, hören wir dort sogar Weller am Saxophon. Aber das ist eine andere Geschichte.

Charly Weller: Eulenkopf. Hillesheim: KBV-Verlag 2014. 262 Seiten, mit Manisch-Glossar. 9,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.

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