Geschrieben am 22. Januar 2011 von für Bücher, Crimemag

Bloody Chops

Bloody Chops


– Heute von Kirsten Reimers (KR), Peter Münder (PM) und Thomas Wörtche (TW).

Blasse Kopfgeburt

(KR) Miles ist auf der Suche nach seinem Zwillingsbruder, Lucy auf dem Weg in ein neues Leben, und Ryan reist durch die USA, um für seinen Vater undurchsichtige Aufträge auszuführen. Alle drei sind in Dan Chaons Roman „Identität“ unterwegs zu einem neuen Leben, einem neuen Sinn, einem neuen Selbst. Herausgekommen ist dabei ein Thriller um Identitätsdiebstahl und gleichzeitig eine Reflexion über die Frage, was Identität denn nun eigentlich ist.

Die Konstruktion des Romans ist sehr interessant, erst am Ende werden die Zusammenhänge klar, erst auf den letzten Metern fügen sich die Einzelteile zu einem unerwarteten Ganzen zusammen. Das ist gut gemacht. Allerdings sind die Figuren blass und substanzlos, die Handlung bleibt über weite Strecken aufs Grübeln beschränkt. Das muss nicht verkehrt sein, doch in diesem Fall hilft es auch nicht: Der Roman bleibt eine Kopfgeburt – gute Idee, nicht besonders überzeugend umgesetzt. Und da die einzige Figur, die das Konzept von Identität tatsächlich in Frage stellt und Grenzen auflöst, pathologisiert wird, rüttelt das Buch auch kein bisschen an den Grundfesten unserer Vorstellung, wer wir sind und was „Ich“ bedeutet.

Dan Chaon: Identität (Await Your Reply, 2009). Deutsch von Giovanni und Ditte Bandini. Hamburg: Rowohlt 2010. 395 Seiten. 14,95 Euro.
Verlagsseite zum Buch
Rowohlt Magazin

Bizarre  Konflikte hinter Baseler Bühnenkulissen

(PM) Wenn der Baseler Kommissär Hunkeler im Café seine Bestellung aufgibt, dann knurrt er kurz und bündig: „Bitte Kaffee mit Milch und kein Geschwätz irgendwelcher Art.“ Keine Frage, Hansjörg Schneiders Romanfigur ist ein sympathischer Querkopf, eine Außenseiter-Figur, die Altmeister Friedrich Glausers Wachtmeister Studer ähnlich ist. So wie Studer am Tatort erst mal in Ruhe alle Details studiert, die Umgebung absorbiert und seinen intuitiven Grübeleien nachgeht, so bedächtig, aber konsequent, geht auch Hunkeler vor, als er im Baseler Theater-Umfeld einen Mord aufklären soll. Da wird der bekannte, umstrittene Intendant Bernhard Vetter auf seinem Hausboot „Antigone“ tot aufgefunden, es gibt bizarre Konflikte zwischen profilneurotischen Jung-Regisseuren und auf klassische Werktreue fixierten Altvorderen und wir begleiten Hunkeler auf seinen abenteuerlichen Bühnentrip, den er bei einer ausgeflippten „Ödipus“-Inszenierung erlebt. Es geht hoch her hinter den Kulissen, die Front zwischen Künstlern und Publikum scheint sich zur Schlammschlacht hochzuschaukeln. Aber der literaturbeflissene Hunkeler, der jetzt wieder zu Robert Walser und dessen filigranem „Der Gehülfe“ findet, kann sich für eine originelle, drastische „Ödipus“-Inszenierung begeistern, bei der die Mimen meistens auf dem Klo hocken und ein Frauenchor mit blutigen Damenbinden auf männliche Darsteller einprügelt. Die post festum entfachten Kontroversen haben sicher mit dem Tod des Intandenten zu tun – aber was war tatsächlich passiert? Hört sich alles schrill und bizarr an, ist aber von herzerwärmender, einfühlsamer Sympathie für den wunderbar sensiblen Kommissär durchtränkt.

Fabelhaft, wie im bedächtigen Hunkeler plötzlich die Begeisterung für Literatur und Bühnenkunst hochkocht, ebenso großartig auch, mit welcher Detailfreude und Leichtigkeit Schneider hier ein faszinierendes Panorama der Hafenstadt (!) Basel entwirft und Hunkeler von einer Rhein-Tour nach Rotterdam schwärmen lässt – schwimmend, mit einem am Bein festgezurrten Seesack! Ein echter Lesegenuss, ohne Geschwätz irgendwelcher Art.

Hansjörg Schneider: Hunkeler und die Augen des Ödipus. Roman. Diogenes. 240 Seiten. 19,90 Euro.
Verlangsinformationen zum Buch

Wow!

(TW) Wie schön, ein Retro-Retro-Retro-Comicjuwel, fein aufgemacht, exzellent ausgestattet & sorgfältig ediert. 1982 erfand der Zeichner und Szenarist Dave Stevens (über den sie alles Wissenswerte im Anhang nachlesen können) eine Geschichte, die 1938 spielt, damit auch üble Nazis vorkommen können, und die in der Comic-Ästhetik der 1940er und 1950er inszeniert ist. Natürlich interessiert sich auch heute kein Mensch für Abenteuer eines Typs, der eine Art Bewegungsviagra auf dem Buckel hat – ein Raketenrucksack zur Turbobeschleunigung, hinter dem natürlich eine Menge Schurken und Gelichter her sind. Geschenkt (genauso wie die drollige Verfilmung von Joe Johnston aus dem 1991). Große Klasse aber die Colorierung von heute, die den Retro-Aspekt brillant unterstreicht. Und große Klasse der hemmungslose Bettie-Page-Fetischismus, dem Stevens frönt. Deswegen heißt auch die Freundin des raketenangetrieben Cliff Secord gleich mal Betty, damit es nicht zu unnützen Reibunsverlusten kommt. Freudiges Bedienen von Obsessionen schätzen wir sehr!

Dave Stevens: The Rocketeer. Gesamtausgabe. Farben von Laura Martin. Deutsch von Christian Langhagen. Ludwigsburg: Cross Cult 2010. 160 Seiten. 29,80 Euro.
Anica Richter über Bettie Page, Lou Reed und Sacher-Masoch