Geschrieben am 8. Januar 2011 von für Bücher, Crimemag

Bloody Chops

Heute greifen für Sie zum Beilchen: Frank Rumpel (rum), Anna Veronica Wutschel (AVW) und Kirsten Reimers (KR).

Wuchtiges Debüt:

(rum) Ein wuchtiger, vielschichtiger und klasse geschriebener Roman über das von Gewalt geprägte Leben in einem fiktiven Arbeiterviertel Philadelphias. Dexter ist nah an seinen Figuren, hat ein sicheres Gespür für deren emotionale Befindlichkeiten und lässt einen immer wieder ein gutes Stück weiter in Abgründe und Sackgassen menschlicher Psyche blicken, als einem lieb sein mag. Selbst der immer wieder aufblitzende Humor ist bitter. „God’s Pocket“ war 1983 Dexters Debüt, das auch 27 Jahre später noch enorm frisch daherkommt.

Pete Dexter: God’s Pocket (God’s Pocket, 1983). Roman. Aus dem Englischen von Jürgen Bürger und Kathrin Bielfeldt. Liebeskind-Verlag 2010. 368 Seiten. 22,00 Euro.

Bittersüßes Naschwerk

(AVW) Die attraktive, von allen umschwärmte Alice sucht aus unerklärlichen Gründen die Freundschaft der zurückhaltenden Katherine. Die gibt sich zunächst unnahbar, erliegt aber bald Alices wohlkalkulierter Charmeoffensive. Flugs werden die beiden Highschool-Schönheiten mit dem netten, schicken Robbie zum unzertrennlichen Trio. Alle drei hüten schwere Schicksalsschläge, deren Bewältigung durch ihre enge Beziehung erträglicher zu werden scheint. Doch dann entpuppt Alice sich auf beunruhigende Weise als biestige Soziopathin, und so muss sich die traumatisierte Katherine einer unkündbaren, verhängnisvollen Freundschaft sowie auch ihrer eigenen mörderischen Vergangenheit stellen. „Die Wahrheit über Alice“ ist ein clever konstruiertes Teenie-Drama um Verantwortung, Schuld und Vergebung. Über drei Zeitebenen verlegt Rebecca James sehr geschickt die Schicksalsscherben ihrer Protagonisten. Dabei jedoch setzt das als Bestseller promotete Debüt auf eine zwar erfolgreiche, indes überaus artifizielle Rezeptur und fertigt so ein kleines, mit poppig rosa Guss überzogenes Naschwerk um einen hochdramatischen Kern. Das mag verführerisch anzuschauen sein, ist jedoch rigoros mit zweifelhaften synthetischen Aromastoffen auf bitterbitterpudrigsüß abgeschmeckt. Die Geschmackssinneszellen müssen sich nach der Lektüre sicherlich erholen, um andernorts wieder gedeihen zu können.

Rebecca James: Die Wahrheit über Alice (Beautiful Malice, 2010). Roman. Deutsch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Reinbek bei Hamburg: Wunderlich 2010. 318 Seiten. 16,95 Euro.

Trocken auf den Punkt

(KR) „Entfernte Verwandte ist das vierte Buch von Matti Rönkä, das nun auf Deutsch erschienen ist. Wiederum ist die Hauptfigur der Russland-Finne Viktor Kärppä mit dem höchst durchwachsenen Lebenslauf. Seit einer Weile versucht Kärppä, seinen Lebensunterhalt halbwegs legal zu verdienen, was angesichts der angespannten Wirtschaftslage und der unterschwelligen Ressentiments gegen oststämmige Menschen nicht ganz einfach ist. Kärppäs Situation entspannt sich nicht gerade, als in einer seiner Wohnungen – die er unter der Hand an einen undurchsichtigen Russen vermietet hat, der dort mehrere osteuropäische Prostituierte untergebracht hat – große Mengen an Drogen auftauchen. Zusätzlich verschwindet ein entfernter Verwandter, und dessen Ehefrau bittet Kärppä, sich nach ihm umzusehen.

Drogenhandel, Prostitution, Schwarzarbeit, Korruption und Menschenhandel – und die alten Ostblockstaaten als billiges Menschenwarenlager, ob nun für Sexarbeit oder für die Baubranche. Matti Rönkä schildert das alles andere als pädagogisch wertvoll: Sehr lakonisch, ohne größere Schnörkel erzählt er kraftvoll und mit dünn gesätem, dafür aber äußerst treffenden Witz. Seine Hauptfigur ist ein halbwegs sympathischer Nicht-Held, der von moralischen Skrupeln kaum angeknabbert ist. Der einzige Grund, warum Kärppä nicht mehr in allzu viele illegale Sachen hineingezogen werden möchte, ist seine Freundin: Wenn die mitbekäme, dass er immer noch krumme Dinger dreht, gäbe es richtig Ärger.

„Entfernte Verwandte“ ist nicht spektakulär, im Prinzip geschieht auch nichts sonderlich Aufregendes, aber das, was passiert, kommt auf den Punkt – intelligent, unaufdringlich, geradeaus.

Matti Rönkä: Entfernte Verwandte (Isä, poika ja paha henki, 2008). Kriminalroman. Deutsch von Gabriele Schrey-Vasara. Köln: Lübbe 2010. 253 Seiten. 12,99 Euro. Verlagsinformation zum Buch.