Geschrieben am 7. Mai 2011 von für Bücher, Crimemag

Bloody Chops

Bloody Chops

– kurz, prägnant, kritisch, saignant – heute von Joachim Feldmann (JF), Kirsten Reimers (KR), Frank Rumpel (rum) und Thomas Wörtche (TW)

Mörderische Fracht

(JF) „Warum, verdammt noch mal, habt ihr die Polizei nicht eingeschaltet“, will der empörte Meeresbiologe Meiners von Thomas Nyström und Anna Jonas wissen. Das ist natürlich die falsche Frage an die Helden des Thrillers „Mörderische Fracht“ von Lukas Erler. In seinem vielgelobten Debüt „Ölspur“ (2010) hatte Erler das ungleiche Paar auf die Machenschaften des ominösen Unternehmens International Maritime Solutions Limited angesetzt, in dessen Auftrag die investigative Journalistin Helen Jonas, Nyströms Geliebte und Annas Schwester, ermordet worden war. Und nun sind der Neurophysiologe und die Ex-Punkerin wieder unterwegs. Es geht darum, einen terroristischen Anschlag auf einen russischen Supertanker zu verhindern. Dass Helen Jonas’ Mörder, den Nyström für den Rest seines Lebens außer Gefecht gesetzt zu haben glaubte, wieder so weit hergestellt ist, dass er begonnen hat, seine Rachepläne in die Tat umzusetzen, sorgt für zusätzlichen Nervenkitzel. Tatsächlich haben wir in Lukas Erler einen Schriftsteller, der nicht nur die Regeln des Genres nahezu schlafwandlerisch beherrscht, sondern seine Romane zudem auf gelungene Weise als Medium ökologisch-politischer Aufklärung nutzt. Und dessen einzige Schwäche vielleicht ist, dass er als gewissenhafter Autor dazu neigt, seine Dialoge mit Informationen zu überfrachten. Hätte Erler ein wenig mehr Vertrauen in das Erinnerungsvermögen und die zeitgeschichtlichen Kenntnisse seiner Leser, könnte ihm der perfekte Politthriller gelingen.

Lukas Erler: Mörderische Fracht. Roman. Zürich: Kein & Aber 2011. 287 Seiten. 18,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch

Der Serienmord als langweilige Kunst betrachtet

(KR) Ein ungeklärter Todesfall vor sechs Jahren, ein recht frischer vor wenigen Wochen – bei beiden ist unklar, ob es sich um Selbstmord, unglücklichen Unfall oder Mord handelte. Der versierten Leserschaft ist sofort klar: Mord, in beiden Fällen, und beide hängen zusammen. Ebenfalls für die Leser eindeutig: Hier ist ein Serienmörder am Werk, mit zwei Toten ist es nicht getan. Dass man der ermittelnden DCI Hannah Scarlett so weit voraus ist, ist okay, so funktioniert das Genre. Es ist halt vorhersehbar. Manchmal mehr, manchmal weniger. Bei diesem Buch eher mehr. Das Geschehen dümpelt lange vor sich hin im neblig-verregneten Lake District, bis dann plötzlich die Ahnungen sich über DCI Scarlett ausschütten wie Hagelschauer, und sie erkennt nun mit einem Mal Motive, Tathergänge, Verbindungen. Gerade noch rechtzeitig, um einen ihr nahestehenden Menschen zu retten und das Buch bei einem verträglichen Umfang zu belassen.

Dabei ist er gar nicht ganz schlecht, dieser Krimi von Martin Edwards – schon der vierte in dessen Lake-District-Krimireihe. Aber halt auch nicht gut. Durchschnitt mit Ambitionen: Die Nennung von Buchtiteln täuscht literarische Bezüge an, und – klar: Lake District – das Glaubensbekenntnis aller Serienmördererfinder soll das Ganze auf eine ästhetische Ebene hieven: Thomas De Quinceys Essay „Der Mord als schöne Kunst betrachtet“ gibt als leise dudelnde Hintergrundmusik den Grundton an und die Richtung vor, hat aber leider keinen Einfluss auf das Niveau. Macht aber auch nichts: Das Buch ist so schnell gelesen wie vergessen.

Martin Edwards: Zu Staub und Asche (The Serpent Pool, 2010). Deutsch von Ulrike Werner. Köln: Bastei Lübbe 2011. 381 Seiten. 7,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch

Kleinteilig, aber konzentriert

(rum) In der Stockholmer U-Bahn explodiert eine Bombe. Zehn Menschen kommen ums Leben. Eine Gruppe namens „Die Reiter von Siffin“ bekennt sich zu dem Anschlag, doch passt dabei einiges nicht recht zusammen. Auf der Suche nach den Mitgliedern dieser ominösen Gruppe, kommt die Polizei stets einen Schritt zu spät und findet nur noch deren Leichen. Gleichzeitig werden die Polizisten der A-Gruppe, einer „Spezialeinheit für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter“, um die sich Arne Dahls erste, 2008 abgeschlossene Romanreihe dreht, auch bei den U-Bahn-Opfern stutzig, die wohl gar nicht so zufällig in diesem Zugabteil saßen. Schließlich kommt noch der schwedische Nachrichtendienst ins Spiel, der Informationen zurück hält und offensichtlich ein ganz anderes Interesse an dem Fall hat.

Arne Dahl, der eigentlich Jan Arnald heißt, greift im neunten Band seiner zunächst auf zehn Teile angelegten, dann um einen Roman erweiterten Reihe das Thema Terrorismus auf und umschifft dabei geschickt jene Stereotype, die dabei für gewöhnlich bemüht werden. Minutiös schildert er die Ermittlungen seiner A-Gruppe, die immer wieder feststecken, sich auf scheinbar weit abgelegenen Nebengleisen bewegen, nach und nach aber doch die passenden Mosaiksteine zutage fördern.

Der Routinier Dahl, der in Schweden gerade den ersten Band seiner neuen Krimireihe veröffentlichte, mag es verwickelt und führt nur allzu gerne Geschichten zusammen, die auf den ersten Blick rein gar nichts miteinander zu tun haben können, um schließlich doch passgenau zueinander zu finden. Das wirkte schon manches Mal allzu konstruiert und glatt.

Diesmal aber konzentriert er sich auf zwei eng verwobene Geschichten, hinter denen erst spät eine weitere auftaucht. Und das erzählt er so spannend, intelligent und verschachtelt, dass dabei sein bisher bester Kriminalroman heraus kam. Nur die eine Spur zu heldenhaft gezeichneten Polizisten der A-Gruppe nerven etwas.

Arne Dahl: Opferzahl. (2006, Efterskalv). Roman. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. Piper-Verlag. 440 Seiten. 19,95 Euro. Verlagsinformationen zum Buch

Schön eklig

(TW) Erstklassiger Trash, obwohl eher unklar ist, als was man „Willkommen in Sick City“ von Tony O´Neill lesen soll. Satire? Hollywood Noir, ein bisschen aus dem Geiste von Nathaniel Wests „Day of the Locust“, allerdings mit noch mehr Speed? Sehr intelligente Albernheit?

Man hat ein wenig den Eindruck, als hätten sich William Burroughs, Hubert Selby und Charles Bukowski neben viel Crack erstaunlicherweise auch Erzählökonomie in großen Mengen reingezogen. Denn die Geschichten von zwei bis zu den Kiemen zugedröhnten Freaks – einer arm, der andere aus reicher Familie, aber so was von dysfunktional –, die mit einem Pornofilm, in dem u.a. Jack Nicholson Sharon Tate vögelt, drei Millionen Dollar verdienen wollen, um noch mehr Drogen zu kaufen, ist erfreulich geschmacklos, schön eklig, sehr drastisch, gewalttätig und manchmal sogar ein klein wenig unangenehm. Und vor allem clever erzählt. Mit anderen Worten: Klasse! Und geeignet, sittlich-moralische Maßstäbe fröhlich zu sabotieren.

Nur die beigegebenen Illustrationen von Michel Casarramona (an sich nette Blätter, die ich mir in anderen Zusammenhängen gut vorstellen kann) sind viel zu statisch und bieder, um in diesem Feuerwerk des Irrsinns noch den einen oder anderen Funken mehr zu zünden.

Tony O´Neill: Willkommen in Sick City (Sick City, 2010) Roman. Deutsch von Stephan Pörtner. Mit Illustrationen von Michel Casarramona. Zürich: Walde+Graf 2011. 328 Seiten. 24,95 Euro. Verlagsinformationen zum Buch

Sänger am Hof des Königs

(rum) Der Sänger Lobo kommt aus armen Verhältnissen und schafft es an den prunkvollen Hof des Königs. Der König ist ein Mafia-Boss, der ein Gebiet im Norden Mexikos bis zur US-Grenze kontrolliert. Er gibt Audienzen für Bedürftige, feiert rauschende Feste für Geschäftsfreunde und regiert sonst mit harter Hand. Der Sänger verdiente bis dato in Kneipen sein Geld und hatte eine übersichtliche Lebensphilosophie: „Das Dasein ist Zeit und Unglück, mehr nicht. Und vielleicht die Wichtigste: Bloß weg von dem, der als nächster kotzen wird.“ Am Hof schreibt er Lieder, in denen er die Heldentaten und Geschichten des Königs und seiner Untergebenen besingt.

Solche Narcocorridos, jene Schunkellieder, in denen die Drogenbosse und ihre Taten besungen werden, sind in Mexiko sehr populär, wenngleich die Regierungspartei im Vorjahr einen Gesetzentwurf einbrachte, der ihre Verbreitung unter Strafe stellen sollte. Doch die CDs verkaufen sich prächtig. 2010 erschien in Mexiko die 13. Folge der auch hierzulande erhältlichen Reihe „Corridos prohibidos“, also verbotene Corridos. Die Sänger freilich leben gefährlich und geraten selbst immer wieder in die Schusslinie. Im Juni 2010 wurde mit Sergio Vega einer der prominentesten Vertreter dieses Genres auf der Straße in seinem roten Cadillac ermordet.

So weit kommt es mit Herreras Sänger Lobo nicht. Auch wenn der König ihn nur als „Scheißspieldose sieht, unterschätzt er doch dessen Einfluss. Als Spion schickt er ihn zu seinem Widersacher. Der Sänger gibt sich als Überläufer, besingt den Kontrahenten und schmäht seinen König. Das Lied verbreitet sich rasch und wird zum Todesurteil für den König. Denn der Corrido, in dem einst die Helden der Revolution besungen wurden, ist, wie der mexikanische Autor in seinem Debüt schreibt, „kein Bild, das die Wand schmückt. Er ist ein Name und eine Waffe“. Herrera abstrahiert stark und reduziert in ebenso poetischer wie präziser Sprache aufs Wesentliche. Mit eindringlichen Bildern erzählt er gleichermaßen von der Macht der mexikanischen Kartelle wie von jener der Kunst.

Yuri Herrera: Abgesang des Königs (2008, Trabajos del Reino). Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Fischer-Verlag. 142 Seiten. 14,90 Euro.  Verlagsinformationen zum Buch