Geschrieben am 2. April 2011 von für Bücher, Crimemag

Bloody Chops

Bloody Chops

– heute hacken Elfi Müller (EM), Kirsten Reimers (KR) und Thomas Wörtche (TW)

Das Motorsägenmassaker

(EM) Jakob Arjouni setzte einst Maßstäbe für deutsche Krimis. Seine Kayankaya-Romane schilderten ironisch ein trostloses und rassistisches Frankfurt/M., in Magic Hoffmann wird das Nachwendeberlin aus dem ethnologischen Blickwinkel seziert. Mit Hausaufgaben und seinem neuesten Buch scheint Arjouni unter die Sozialpsychologen gegangen zu sein und behandelt Antisemitismus, diesmal als Ideologie radikaler Rechter in Brandenburg und Berlin, die nicht davor zurückschrecken, einen jüdischen Kindergarten in die Luft zu jagen.

Der Roman ist das weinerliche schriftliche Geständnis des 18jährigen Rick aus einem brandenburgischen Kaff, in dem ihm – wie kann es anders sein – verwahrloste rechtsradikale Jugendliche das Leben schwer machen, das doch so schön sein könnte: Comiczeichnen, eine Lehrstelle, eine nette Freundin, vielleicht ein Kind wie den süßen Kleinen, mit dem er immer am Zaun des Kindergartens spielt. Dem Bösen wird eine kitschige Kleinbürgeridylle entgegengehalten, die in dem unterwürfigen Schreiben an den Psychologen Doktor Layton als Gegenentwurf zu der Weltanschauung des Heimatschutzes dient, einer fiktiven, neonazistischen Organisation, die Böses gegen  jüdische Kinder im Schilde führt. Allerdings sind die Neonazis nicht in der Lage, ein Attentat durch ihre eigenen Mitglieder zu verüben, weshalb Rick den Joker in ihrem heimtückischen Plan erhält. Für eine Lehrstelle muss er was tun, sonst verliert er nicht nur die, sondern auch seine Liebsten werden bedroht.

Auch durch die übertriebene Gegenwehr, das Sich-Aufbäumen eines Gedemütigten, Getriebenen und Hintergangenen, wird der Plot nicht gerettet. Als das Elternpaar des kleinen Ninu, Ricks Wunschkind, ihn dann noch im Gefängnis besucht und sich bei ihm bedankt, das Attentat verhindert zu haben, ist die Vorabendserie nicht mehr weit.

Ich bin nicht der Ansicht Georges Simenons, dass alle Schuster bei ihren Leisten bleiben sollten, und dass, wenn sie sich davon abwenden, Verbrechen und Unglück oder gar schlechte Bücher entstehen können. Für Volkspädagogik und Literatur sollte es allerdings einen Unvereinbarkeitsbeschluss geben. Ein Roman kann eine Waffe im Kampf gegen Antisemitismus sein. Dieser ist es nicht.

Jakob Arjouni: Cherryman jagt Mr. White. Roman. Zürich: Diogenes 2011. 176 Seiten. 19,90 Euro.
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Fatale Verletzungen

(KR) Früher war Anthony Verey ein Star der Londoner Antiquitätenszene. Ach was: der Star! Er war der Anthony Verey, der Händler für Kostbarkeiten. Bewundert, beneidet, umgarnt. Heute ist sein Licht längst verloschen. Die Geschäfte gehen schlecht, für niemanden mehr ist sein Urteil das Maß der Dinge. Um noch einmal in seinem Leben neidische Blicke auf sich zu ziehen, beschließt er, ein Anwesen in den Cevennen zu kaufen, „bevor es zu spät ist“. Er entscheidet sich ausgerechnet für das Haus, in dem die Geschwister Aramon und Audrun Lunel aufwuchsen. Damit gerät das zerbrechliche Gleichgewicht aus Hass, Verachtung, Abhängigkeit und verzweifelter Liebe, das Aramon und Audrun seit mehr als sechzig Jahren aneinander kettet, fatal ins Wanken.

Das Schöne an diesem Thriller ist, dass er sich überhaupt nicht anbiedert. Mitunter ist er eher spröde; auf Spannung gebürstet ist er gar nicht – und doch faszinierend und fesselnd. Großes Plus sind die Figuren. Aus wechselnden Perspektiven schildern sie sich gegenseitig und entlarven dabei in erster Linie sich selbst. Hier ist niemand wirklich sympathisch. Allerdings auch keiner richtig böse. Und so richtig viel passiert im Grunde auch nicht – zumindest nicht in der Gegenwart. Die entscheidenden Verwundungen haben die Figuren in der Vergangenheit erfahren. Diese Verletzungen und die verzweifelten Versuche, die Defizite der Kindheit auszugleichen – endlich die Liebe und die Anerkennung zu erhalten, die einem doch nun endlich zustehen –, sie führen zur Katastrophe. Und die ist bei dieser Konstellation in der Tat unausweichlich.

Rose Tremain: Der unausweichliche Tag (Tresspass, 2010). Deutsch von Christel Dormagen. Berlin: Suhrkamp 2011. 334 Seiten. 13,95 Euro.
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Urknall, subtil

(TW) Peter Zeindlers Polit-Thriller waren immer schon (tempus fugit, seit den mittleren 1980s) ein bisschen anders. Erwartungshaltungsverweigernd (wenn es so was überhaupt gibt), spröde, komplex, nicht unbedingt von action getrieben, aber dafür von vielen klugen Reflexionen und sorgfältigster Porträtierung seiner Figuren. Der Kalte Krieg ist vorbei, aber seine Gestalten und Figuren leben noch. So wie Benjamin Lorant, der nicht Benjamin Lorant heißt, sondern Johann Blume und für die HVA gearbeitet hat. Als Lorant ist er promovierter Kunsthistoriker, ist in Genf geblieben (dort hatte er einst am Rande mit dem Hotel Beau Rivage und einer Badewanne zu tun) und mit einer Frau verheiratet, die ein höheres Tier bei der UN ist. Manchmal liegt er mit seinen unterschiedlichen Identitäten im Handgemenge, aber er hat sich sozusagen im schizophrenen Modus arrangiert. Bis man ihn reaktivieren will. Er soll CERN, den einzigartigen Teilchenbeschleuniger, der in der Nähe von Genf steht, sabotieren. Wer weiß von seiner wirklichen Identität? Blume (oder Lorant?) muss in seiner Vergangenheit graben. Und deswegen wird aus dem Spionageroman das eindringliche Psychogramm einer professionell deformierten Persönlichkeit. Und wer ist das nicht, in these days? Deswegen ist „Urknall“ ein beinahe universaler Roman.

Ein ungemein kluges, präzises, fast stilles Meisterwerk. Understatement pur, aber das konnte Peter Zeindler schon immer brillant.

Peter Zeindler: Urknall. Roman. Basel: Friedrich Reinhardt Verlag 2011. 301 Seiten.  23,00 Euro.
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