Rrose …
Ein Bildband und ein Film, die Geschichte von Zwillingsschwestern, deren eine verschwindet und deren andere durch ein Paris der surrealen Mythen, Märchen und Realitäten irrt. Eine multimediale Collage aus dem Geiste des Fantômas, inszeniert von Bettina Rheims und Serge Bramly.
Friedemann Sprenger über ein opulentes, irres und grandioses Projekt aus Frankreich.
„Allongeant son ombre immense
Sur le monde et sur Paris
Quel est ce spectre aux yeux gris
Qui surgit dans le silence?
Fantômas, serait-ce toi?
Qui te dresse sur les tois“
– so dichtete Robert Desnos Fantômas an, das große Kultobjekt der Surrealisten, der Stadthalter der artifiziellen Kriminalliteratur, in dem sich alles kreuzt und vermischt – die Burlesque, das Kintopp, die Kolportage, die Mysterien der Großstadt, die Masken und Verkleidungen, das Spiel der „Identitäten“, die Lust am Verbrechen.
Aus diesem Geist haben die Fotografin Bettina Rheims und der Szenarist Serge Bramly (der nebenbei auch ein glänzender Kunsthistoriker ist) ein Monumental-Projekt gemacht – ein Grand Sérial Mysterieux über Rose, die verschwundende Zwillingsschwester, die von B. gesucht wird – in hunderten von streng stilisierten Fotos und Tableaus im Bildband, in 138 Minuten Film, der sich „Neo-Noir-Arthouse“ als Genre-Bezeichnung gibt (und als DVD beiliegt) und zu den Bildern noch Sound, Text und viele, viele Paris-Ansichten liefert. Was mit „Rose“ passiert ist, ist rätselhaft, steht Rose doch laut Titel für Paris, möglicherweise.
Man kann Rose aber auch mit Marcel Duchamp „Rrose“ nennen, was man dann als Eros aussprechen kann, ja muss. Rheims und Bramly inszenieren die Queste nach Rose als Thesaurus an Anspielungen, Zitaten und Verweisen. Obsessionen, Fetisch, Interieurs, Eleganz, Sex (viel Sex), schöne Frauen, Alltag und Visionen, Halluzinationen und Paris sind aufs Engste verschränkt. Essen und Trinken, Luxus und Absturz, Laster und Mysterien bilden so Hypothesen über die Realität, die die „Erzählung“ als Hypothesen über die verschwundene Rose strukturieren. Ist sie entführt worden? Der amour fou verfallen? Wurde sie Terroristin? (Hier liefert Bettina Rheims ein paar politisch sehr unkorrekte Bildkommentare zum Thema Sex & Sprengstoffgürtel ab, die die Terror-Hysterie treffend bösartig konterkarieren). Wurde sie Opfer? Oder ist sie, wie ein Fahndungsplakat à la Bertillon nahelegt, auch Täterin?
Surrealismus, pur …
Aber Achtung, zwar behauptet der Film noch ein wenig mehr als die Foto-Strecken eine narrative Kohärenz, aber das ist falsch. Wir befinden uns im tiefsten surrealistischen Milieu, dessen Motto von Raymond Roussel stammt: „Das Werk darf nichts Wirkliches enthalten, keine Beobachtung der Welt oder der Geister, nichts als ganz und gar imaginäre Kombinationen“. Rheims und Bramly erzählen eine Geschichte in Bildern, die nichts auflösen, sondern autonom sind. Jedes einzelne Bild (jede einzelne Einstellung im Film) ist durchkomponiert und nicht auf den Fortlauf der narration hin ausgerichtet, sondern selbstbezogen – ein eigenes Kunstwerk. Auch stilistisch. Bettina Rheims zitiert nicht nur den gesamten Surrealismus, bezieht sich nicht nur auf gesamte Kultur- und Sittengeschichte von Paris (im Film ist die jeweilige topographische Zuordnung akzentuierter, im Foto-Teil muss man die Kommentare zu den einzelnen Bildern lesen), sondern natürlich auch die Bildergeschichte und die Geschichte der Fotographie von Doisneau über Man Ray (siehe unten) und Brassaï bis hin zu Helmut Newton. Von der einschlägigen Filmgeschichte nicht zu reden, Buñuel pere (Belle du jour) et fils (Juan Luis Buñuel und Claude Chabrol hatte ja den Fantômas-Stoff adaptiert) sind präsent, die Inszenierungen von Melville (viel Melville), Liliane Calvani und so weiter.
Kleine Altäre für Boris Vian – auch einer, der für den großen inneren Zusammenhang von Kriminalliteratur und Surrealismus eminent wichtig ist – und für den klassischen film noire à la Jean Gabin – finden sich hin und wieder so eingestreut. Nächste Ebene: Die Schauspieler und -innen, die Models … Die Hauptrolle hat Inge van Bruystegem, deren eigenwilliges Gesicht schon die halbe Miete ist, dazu agieren immer in selbstreflektiver Pose, aber dennoch „passend“ Naomi Campbell, Monica Bellucci, Anthony Delon, Michelle Yeoh und, neben vielen anderen mehr, Charlotte Rampling als Madame Jacqout, so geheimnisvoll, so ironisch, so süffisant wie eh und je …
Bei aller überwältigenden Zitat- und Verweisungsflut, bei allen auch sehr gelehrten Anspielungsorgien, die man seitenlang kommentieren könnte, mindesten drei Magisterarbeiten lang – das Projekt hat eine sehr eigene Atmosphäre, einen eigenen Ton, einen eigenen Rhythmus. Der Geist von Fantômas, als Sinnstifter, als Hauptmetapher, als maliziöser Cicerone durch die obsessiven Welten von Stadt, Lust und Laster schwebt ironisch über dem Ganzen. Die fröhliche Anarchie, die subversiv sittlich-moralisches Chaos stiftet, die Ordnungsprinzipien umkippt und lächerlich macht, die Disparates zusammendenkt und zusammen führt – all das wirkt in diesem Groß-Projekt aufs ästhetisch Schönste und Gelungenste zusammen. An solchen Stellen stecken die wirklichen kreativen Potentiale von Kriminalliteratur, weit abseits aller Betulichkeit. Elegante, urbane Halluzinationen.
Bettina Rheims/Serge Bramly: Rose, c´est Paris. Grand Sérial Mystérieux. Bildband & DVD (138 Min.). 3-sprachige Ausgabe. Deutscher Text von Stefan Barmann. Köln: Taschen 2011. 368 Seiten. 49.99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch
Man kann natürlich auch diese Edition haben:
Bettina Rheims: Magic City III, 2009. Pigment print on Harman photo Baryth paper. Hardcover, booklet, DVD (138 minutes), and further objects in a suitcase, 29 x 40.5 cm, 332 Seiten, € 1500.00. Verlagsinformationen zum Buch
Dazu dringend zu lesen:
Thomas Brandlmeier: Fantômas. Beiträge zur Panik des 20. Jahrhunderts. Filit Bd. 1. Hrsg. von Rolf Aurich und Wolfgang JacobsonBerlin: Verbrecher Verlag, 2007, 166 S., 14.00 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Besprochen bei kaliber38.
Und:
Pierre Souvestre & Marcel Allain: Fantômas. Ein Zug verschwindet. (Le Train Perdu, 1912). Roman. Dt. von Lea Rachwitz. Bern: Edition Epoca, 2011, 399 Seiten, € 29,90. Verlagsinformationen zum Buch. Alles, was zur neuen Fantomas-Ausgabe zu sagen ist, steht hier!
Auch dringend zum Thema:
Man Ray: Portraits. Paris – Hollywood – Paris 1921 -1976. Hg. Von Clément Chéroux. Mit Texten von Quentin Bajac, Clément Chéroux und Man Ray. Dt. von Matthias Wolf. München: Schirmer/Mosel 2011, 316 Seiten, € 58. Verlagsinformationen zum Buch.
Man Ray, der surrealistischste aller Fotographen war auch ein begnadeter Porträtist. Seine Portäts sind klassisch, karg, möchte man fast sagen, aufs Wesentliche konzentriert, obwohl er erzählt, dass seine Kunden, wenn sie aus dem Studio kamen, gesagt haben: „Eine so leichte Sitzung habe ich noch nie erlebt.“ Seine Kunden waren die celebreties seiner Zeit; die hier versammelten Photos aus dem Man-Ray-Archiv des Centre Pompidou reichen von Marcel Proust auf dem Totenbett (1922) bis zu Catherine Deneuve in den Sixties. Das Register ist ein who is who des Surrealismus, der Malerei, der eleganten Welt und der Bohème des mittleren letzen Jahrhunderts, ein jeder wird seine eigenen Hausgötter und –göttinnen finden.
Den Konnex von Kriminalliteratur und Surrealismus belegt ein schönes Doppelporträt von 1930 – es zeigt den späteren Série-noire-Begründer Marcel Duhamel mit seiner Frau Gazelle, in einer sehr einschlägigen Noir-Pose, die er über den Kreis um Robert Desnos kennengelernt hatte, der Desnos, der die Ode auf „Fantômas“ (siehe unser Krimi-Gedicht heute) geschrieben hatte …. Man kann, ja man muss stundenlang in dem Man-Ray-Band blättern, dann fliegen einem, neben dem Vergnügen, große Fotokunst zu geniessen, die Bezüge und Verknüpfungen nur so zu.
Friedemann Sprenger
Foto: © 2011 Man Ray, VG Bild-Kunst, Bonn / courtesy Schirmer/Mosel