Geschrieben am 23. Januar 2013 von für Bücher, Litmag

Annett Gröschner: Mit der Linie 4 um die Welt

Annett Groeschner_ Mit der Kinie 4 um die WeltSchöne Zufallsfunde

– Gerne reist man mit Annett Gröschner auf den Linien 4 durch alle Weltorte, die sie besucht hat. Von Wolfram Schütte.

Es ist immer wieder ein großes Vergnügen, sich Weißferdls Solo „Ein Wagen der Linie 8“ anzuhören. Man kann es auf Youtube tun. Offenbar kennt es Annett Gröschner nicht, sonst hätte sie es in ihrem Buch „Mit der Linie 4 um die Welt“ gewiss einmal erwähnt.

Das ist erstaunlich bei der passioniertesten deutschen Tramfahrerin, die überall auf der Welt, wo sie hinkommt, nach einer Tram-, Bus- oder Trolleybus-Linie Nr. 4 Ausschau hält, einsteigt, mit ihr fährt & davon ein literarisches Zeugnis gibt. Vierunddreißig dieser unterschiedlich langen Zeugnisse (u. a aus Gotha & Reykjavik, Riga & Shanghai, Dresden & Buenos Aires, Hildesheim, Jekaterinburg oder Stettin) hat sie in dem oben erwähnten Buch versammelt. Als Vortragende in Goethe-Instituten oder auch (wie in Hildesheim oder in Estlands Tartu) als zeitweilige Dozentin ist sie weit in der Welt herumgekommen – und hofft noch auf weitere Reisen zu den Linien 4 anderer Städte, so dass die vorliegende umfängliche Sammlung ihrer Tram-Geschichten „nur“ ein erster Band einer mehrbändigen Reihe wäre.

Es ist gewissermaßen die globalisierte Ausgabe einer früheren Publikation der Schriftstellerin, die mit zwei erstaunlichen epischen Werken – dem DDR-Roman „Moskauer Eis“ & dem Berlinroman „Walpurgistag“ – bereits nachhaltig auf sich aufmerksam gemacht hat.

Die Autorin, die auch Theaterstücke, Gedichte & Sachbücher geschrieben hat, ist ein literarisch-journalistischer Vollprofi. Sie gehörte zu der Gruppe junger Journalisten, die zwischen 1999 & 2002 in der FAS neue Wege des Feuilletonjournalismus einschlugen & ausprobierten. In diesen Jahren unternahm sie für die Sonntagszeitung der FAZ zusammen mit dem Fotografen Arwed Messmer ausgedehnte Straßenbahn- & Busfahrten in Berlin & schrieb darüber. Nach dem vorzeitigen Ende des Zeitungsexperiments veröffentlichte sie ihre damaligen FAS-Artikel in einem Buch.

Foto von Annett Groeschner

Autorin Annett Gröschner

Warum ist es die Linie 4, an der sie einen Narren gefressen zu haben scheint? Weil Annett Gröschner, die 1964 in Magdeburg geboren wurde, auf „dem Werder“, einer Magdeburger Insel der Elbe, wohnte. Von dort kam sie mit der Straßenbahn Nr.4 in die Stadt & seither ist „das Quietschen der Gotha-Wagen“ der Magdeburger 4 ihre „Madeleine“. Auf die fixe Idee, „mit der 4 um die Welt zu fahren“, schreibt sie, ist die Autorin im Rumänischen Klausenburg gekommen, wo sie sich zu einer Lesung aufhielt. Während sie vortrug, hörte sie plötzlich vertraute Straßenbahngeräusche & als sie später auf die Straße trat, hielt wirklich vor ihr ein Magdeburger Straßenbahnwagen.

Es war für sie ein traumhafter Augenblick – „wie in einem Fellinifilm“, würde ich hinzufügen. Die Magdeburger Verkehrsbetriebe hatten nach der Wende den armen Rumänen ein Teil ihres Verkehrsparks geschenkt, und ohne eine äußerliche Veränderung fuhren nun die Magdeburger Trams – nur ortsversetzt – in Klausenburg weiter(hin).

Dieser Gröschner’schen akustischen Madeleine verdankt sich ihre fortwirkende Obsession, mit der sie aber nur in China in die Bredouille kommt, weil für die Chinesen die Zahl 4 der „Unglücks-Zahl“ 13 in unserem Kulturkreis entspricht und deshalb, soweit es geht, gemieden wird – wie ja auch die Magdeburger die Linie 13 ausließen.

Erst dachte ich als, Annette Gröschners Spleen mit der Tram 4 & deren Streckenführung sei ein zu schmales Fenster in die jeweilige Welt. Und in der Tat: Für einen Berliner Leser mögen die Straßen & Haltestellen der Bus-Linie 4, die Gröschner im umfangreichsten ihrer Reisestücke akribisch notiert, vielleicht noch sinnhaft & womöglich sogar nachvollzieh-, wenn nicht sogar nachweisbar sein; aber für mich als nicht-Berliner Leser waren diese Namen erst einmal nur Sprach-& Sachgeröll, Muster ohne Wert.

Jedoch bald begriff ich zum einen, dass diese lokalen Angaben so wichtig für die poetische Authentizität dieser Reportagestücke sind wie die mir gleichfalls fremden nautischen Begriffe in Melvilles & Conrads See-Romanen; zum anderen aber hat die Autorin ein solches Repertoire von Darstellungsformen für ihre je nach den Gegebenheiten unterschiedlichen Reisestücke entwickelt, dass solche „naturalistischen“ Beschreibungen ihrer Fahrten nur eine unter vielen ist. Sonst wäre das serielle Motiv, sich an unterschiedlichen Orten der Welt vom immer gleichen Straßenbahn- oder Busfenster aus umzusehen, auch schnell langweilig geworden. Gröschners Ortsbesichtigungen sind aber höchst aufregend – als Blickkontakte mit Städten oder Stadtgegenden oder mit Personen in & außerhalb der von ihr benutzten Verkehrsmittel mit der Nr. 4.

Walpurgistag von Annett GroeschnerWo die aktuelle Situation oder Geografie nichts „hergibt“, füttert die Reporterin ihre Reisereportage mit (kultur)historischem Material auf – wie in Naumburg, wo sie den historischen Beginn mit Dampfstraßenbahnen recherchiert hat oder in New York, wo sie u. a. an Klaus Mann & Ernst Toller erinnert. Sie hat sehr viel recherchiert – im Großen wie im Kleinen.

So erfahren wir von den zwei im ganzen Ostblock gebräuchlichen Straßenbahntypen: dem Gothaer und dem bei der tschechoslowakischen Tatra hergestellten Straßenbahnwagen. Die Autorin kann das unterschiedliche Klingeln, Quietschen & Rumpeln ohne weiteres den jeweiligen Typen zuordnen, wo auch immer sie (noch) auf der Welt ihnen begegnet. Denn natürlich hat alles seine Zeit – auch die öffentlichen Verkehrsmittel – über deren Fahrpreise, Innenausstattung etc. sie uns ebenso informiert wie (gelegentlich) über Freundlichkeit oder Missmut ihrer Tramfahrer oder -fahrerinnen (wie z. B. die resolute in dem Londoner 4er). In New York hat die Autorin erlebt, dass ein Busfahrer mitten auf der Strecke spontan auf die Idee eines sofort vollzogenen Berufswechsels gekommen ist & den Bus mit den verdutzten Passagieren verließ, in Peking hat sie vom Bus aus gesehen, wie in einem Park „die Alten, die kein Angehörigen haben, die ihnen den Rücken kratzen können, ihn an den Bäumen reiben“.

Es sind solche anekdotischen Erfahrungen oder phänomenologischen Betrachtungen der Tramfahrerin, die Annett Gröschners Zufallsreisen mit der Linie 4 immer wieder zu gelungenen Miniaturen mit erzählerischen Überraschungen werden lassen. Minsk z. B., in dem ihr „die agilen Frauen“ auffallen, erschließt sie sich mit einer Zitat-Montage des weißrussischen Autors Artur Klinau, der Lukaschenkos Reich mit Campanellas mittelalterlicher Utopie des „Sonnenstaats“ verglichen hat, im sibirischen Jekaterinburg stellt sie fest, dass dort Frauen in High Heels (die ihr auch in Riga wieder ins Auge stechen) annoncieren, dass sie noch „zu haben“ sind, während die Verheirateten flache Schuhe tragen. In Reykjavik notiert sie, dass es dort keine Straßenbahnen, sondern nur Bus-Linien geben kann, weil der vulkanische Boden Islands zu unruhig ist. Ihre Fahrten in Jena finden im Blick auf die NSU statt, und in Zwickau fährt sie die Strecke ab, die Beate Zschäpe genommen hat, bevor sie sich den Behörden gestellt hat. In Tel Aviv spricht sie nicht nur von einem palästinensischen Busattentat, sondern auch von den vierzigtausend illegal eingewanderten ostafrikanischen Flüchtlingen, die über Ägypten nach Israel gekommen sind & schon zu rassistischen Übergriffen der Einheimischen gegen die Schwarzen geführt haben. – Fakten, die man bislang nicht kannte. Man sieht: Die Autorin besitzt einen klaren, weitreichenden Blick; sie ist, selbst als Zufalls-Touristin, geradezu von Neugier beseelt.

Die kleinen Reportagen von den Linien 4 können sowohl ganz persönliche Erlebnismomente mit anderen Fahrgästen festhalten, als auch quasi novellistische Träumereien sein oder sich zu szenischen Augenblicken verdichten. So vielgestaltig die Reporterin und Erzählerin ihre Erkundungen mit & über die Linie 4 da & dort vornimmt: alles in allem entsteht daraus ein buntes, skurriles, poetisches Kaleidoskop.

Fast immer gelingen ihr dichte, aussagekräftige & überraschende Einblicke in Land & Leben ihrer Besuchsorte, so subjektiv wie ohne Anspruch auf Vollständigkeit, jedoch authentisch. Gerne reist man deshalb mit Annett Gröschner auf den Linien 4 durch alle Weltorte, die sie besucht hat, Wobei man auf naheliegende wie Lissabon mit seiner berühmten 28 gerne verzichtet zugunsten solcher Orte wie Alexandria, Naumburg oder Warschau, die Gröschner durch die Scheiben der Linie 4 für uns entdeckt. Auf die Bilder des Bandes hätte man allerdings verzichten können.

Wolfram Schütte

Annett Gröschner: Mit der Linie 4 um die Welt. Mit Fotografien der Autorin und Arwed Messmer. München: Deutsche Verlags Anstalt 2012. 399 Seiten. 22,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Autorenfoto: Iko Freese/drama-berlin.de.

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