Petits riens (VII)
–Wolfram Schütte mit Beobachtungen zu der feudalistische Struktur der DDR-Gesellschaft, dem dänischen Filmregisseur Carl Theodor Dreyer, G.K. Chestertons eben erstmals auf Deutsch erschienenen Essays „Euthanasie und andere Übel“ und illegalen Zusatzabschöpfungen in der bürgerlichen Gastronomie.
Glück gehabt. – Klassentreffen von Über-Siebzigjährigen, die in der DDR gelebt haben. Darunter ein Physik-Prof., der sich in der DDR habilitiert hat & mehrfach während dieser Jahre im Ausland (z.B. zweimal in Nordkorea) & sogar zeitweise in den USA gelehrt hat. War er also ein „Reisekader“, der jeweils nach seiner Rückkehr aus dem „feindlichen Ausland“ der Stasi Meldung machen musste? Wie konnte er, der noch nicht einmal in „der Partei“ war, überhaupt seine akademische Karriere befördern, ohne dafür verschwiegen „den üblichen Preis“ zu zahlen?
Ohne Zweifel gehörte der Naturwissenschaftler zur DDR-Nomenklatura, also zu jenen Kadern, die im dortigen Gesellschaftssystem bevorzugt wurden & so privilegiert leben konnten, als gäbe es die Diktatur von Partei & Staat nicht. Der Physiker wurde „gebraucht“ – übrigens so sehr waren seine Kenntnisse & Fähigkeiten speziell, dass er noch heute, jenseits seiner schon etliche Jahre zurückliegenden Emeritierung, weiterhin noch Vorlesungen hält, weil man bis heute keinen Ersatz für ihn gefunden hat.
Das Glück des Naturwissenschaftlers war aber nicht alles, was ihm in seinem DDR-Leben dazu verhalf, unkorrumpiert durch die Zeitläufte zu kommen. (Als Geisteswissenschaftler wäre er persönlich nicht so geschützt gegenüber staatlichem Loyalitätsbegehren gewesen.) Sein Vorgesetzter – sein Chef, bei dem er promoviert hatte – hatte in Moskau studiert & war dort auch habilitiert worden. Das machte ihn gewissermaßen „sakrosankt“ für die DDR-Behörden, obwohl auch er kein Parteigenosse oder gar Parteisoldat gewesen ist. Er war am liebsten auf Vortragsreisen im Ausland – & unser gewitzter Bekannter schrieb ihm als sein promovierter Assistent jeweils die dafür notwendigen Vortragsmanuskripte. Er wurde also auch von seinem Chef „gebraucht“. Nachdem er nun selbst Prof. geworden war, konnte er nun auch für sich selbst „sorgen“ & seine physikalischen Spezialkenntnisse genauso für seine Reiselust nutzen wie jeder andere seines Kalibers im Westen. Mehrfach waren auch westliche Kollegen an seinem DDR-Institut als zeitweilige Lehrende zu Gast.
Nach der Wende sah er sich seine Stasi-Akte an. Denn natürlich stand er unter Beobachtung, das war ihm klar. Er wusste es auch von Kollegen, die ihn über ihre erpresste Stasitätigkeit aufgeklärt & ihm empfohlen hatten, in ihrer Gegenwart nichts Heikles zu äußern. Auch wusste er, dass seine „Datsche“, die zufällig in der Nähe von Honeckers Bunker lag, vollkommen „verwanzt“ war. Deshalb zogen sich, wenn er sich mit seinesgleichen Freunden dort zum freien, will sagen kritischen Gespräch traf, die Diskutanten zu einer vom Haus entfernten Feuerstelle zurück. Die Stasi-Akten über diese Beobachtung waren aber vernichtet worden, er nimmt an, sie hätten in dem akademischen Auslandsreisenden, der in der Nähe des geheimen Bunkers des Staatsratsvorsitzenden auf seinem Grundstück ausländische Gäste empfing, einen amerikanischen Spion vermutet.
Lauthals, erzählte er, habe er aber bei der Lektüre seiner erhaltenen Akten lachen müssen, weil seine von der Stasi befragten Nachbarn sich bei ihr darüber beschwert hatten, dass wochentäglich mittags von Zwei bis Drei in seinem Haus die Klavierübungen seines Sohnes ihre Mittagsruhe gestört hatten. Nie habe einer seiner Nachbarn sich deswegen bei ihm gemeldet, meinte er; aber die (klandestine) Stasi natürlich auch nicht. So lernte sein Sohn – wie in einer bürgerlichen Familie noch der Weimarer Republik – unbehelligt Klavier spielen & als er jetzt die Stasi-Akten über seinen Vater sah, konnte er ihm beruhigt sagen: „Ich bin stolz auf Dich, Papa“ – stolz darauf, dass der Vater ohne moralische Blessuren durch die DDR-Zeit gekommen ist.
Der Vater aber meint heute, dass es sein Verdienst nicht gewesen & er auch kein Widerstandskämpfer, sondern nur kein Sympathisant des Regimes gewesen sei. „Ich habe Glück gehabt, gleich mehrfach“, kommentiert er sein Glück. Im Nachhinein betrachtet, wird an diesem Fall eines politisch unbescholten Gebliebenen wie in einem Brennspiegel die feudalistische Struktur der DDR-Gesellschaft transparent.
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Seltsames Traumfeld – Es ist mehrere Jahrzehnte her, dass wir, als junge Filmfans, die damals noch Filmenthusiasten hießen, wenn sie sich in den Sechzigern nicht sogar mit der Nouvelle Vague für „Cinéasten“ hielten – am „Filmstudio“ der Frankfurter Universität eine (die erste deutsche) Retrospektive des dänischen Filmregisseurs Carl Theodor Dreyer veranstalteten. Anlass war wohl sein letzter Film „Gertrud“ (1964), der von der internationalen Filmkritik höhnend verrissen worden war. Nur die „Cahiers du Cinema“ sahen in dem einzigartigen Spätwerk des damals Fünfundsiebzigjährigen das Chef d´oeuvre, als das „Gertrud“ heute längst anerkannt ist.
Wir aber wollten mehr wissen von dem bei uns völlig unbekannten, bzw. völlig vergessenen Meister, der in den uns geläufigen französischen Filmgeschichten als einer der ganz Großen bewundert wurde. Und gerade erst hatte Anna Karina in Godards „Vivre sa vie“ einen stummen, tränenvollen Blick-Dialog mit der „Jeanne d´Arc“ (Maria Falconetti) in Dreyers fast nur aus Großaufnahmen montiertem gleichnamigem Stummfilm geführt, der uns bewegte & neugierig machte z.B. auf Dreyers 1932 bei der UFA entstandenem „Vampir“. Es war der erste Film des späteren (Horrorfilm-)Genres – berühmt dafür, dass Dreyer in einer Szene, in der ein Untoter in einem Sarg mit einem Gesichtsfenster transportiert wurde, die Kamera in dem Sarg deponierte, so dass man als gefangener Zuschauer sich in der Position des Untoten befand.
Kurz: wir waren als Studenten nicht nur über unsere filmhistorische Initiative, die nach viel Recherchearbeit in den europäischen Filmarchiven glückte, sehr stolz, sondern auch beglückt, das Oeuvre des dänischen Meisters in seinen besten Beispielen sehen zu können. Aber nie mehr nach diesen Eindrücken aus den Sechzigerjahren habe ich erneut einen dieser Stumm- & Tonfilme gesehen oder hat der Regisseur oder sein Name weder in meinem beruflichen noch in meinem privaten Leben auch nur die kleinste Rolle gespielt; ebenso wenig kann ich mich erinnern, dass er oder seine Filme mündlich, schriftlich oder audiovisuell auch nur einmal während des vergangenen Halbjahrhunderts (& schon gar nicht in diesen Tagen) erwähnt worden wäre. Auch hat keiner derer, die über ein heutiges dänisches Regisseurs-Skandalon namens Lars von Trier – geschweigen denn dieser selbst – je noch den mittlerweile wieder total vergessenen C.Th.Dreyer irgendwann einmal erwähnt.
Umso rätselhafter ist einer meiner Träume dieser Nächte, in dem ich – das erinnere ich noch von seinem plot – mit Dreyers „Vampir“–Film mich beschäftigte & vor allem stolz auf mich war, als ich einer Person, mit der ich im Traum sprach, die Titel eines von Dreyers Stummfilmen – „Blätter aus dem Buch des Satans“ – & den Titel von einem seiner späten Tonfilme – „Ordet“ (Das Wort) – sagen konnte! Oder fielen mir die Titel (& aber auch die Grundzüge ihrer Handlungen) beim Erwachen ein? Schwer zu sagen – auch weil Schlafen/träumen/ wachen im Alter nachts nicht mehr streng voneinander geschieden werden!
Aber jetzt beim Niederschreiben der mich bis heute als unprovoziertes Erinnerungsrätsel bestürzenden Traumstücke, die überraschend aus der Archiv des Unbewussten aufgestiegen waren, weiß ich mit absoluter Sicherheit noch, dass ich im Traum von Dreyers Filmen weder etwas von „Gertrud“ noch von seiner „Passion de Jeanne d´Arc“ etwas wusste! Obgleich gerade sie mich seinerzeit tief beeindruckt hatten.
Nachdem also Name & Werk Dreyers über 50 Jahre nicht mehr in mein Bewusstsein gekommen waren, las ich nun aber, ein paar Tage nach dem erstaunlichen Traum in einem zufällig wahrgenommenen Porträt eines heutigen Regisseurs – angesichts von dessen Oeuvre ich das nie vermutet hätte –, dass er als junger Mann tief beindruckt von den Filmen Dreyers gewesen sei. So sehr mich sowohl dieses Bekenntnis & diese Koinzidenz überrascht haben: den Namen des Dreyer-Bekenners habe ich schon wieder vergessen – wahrscheinlich, weil seinen Filmen in meinen Augen die optische Signatur & ästhetische Intensität Carl Theodor Dreyers fehlt!(?)
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Vorsicht: Bedienung – Wenn es uns nicht zweimal an einem Sonntag in zwei angesehenen Restaurants in zwei Vortaunusstädten passiert wäre (Bad Homburg, Königstein), käme ich nicht auf die folgende Spekulation. Drei Personen, erkennbar über 70 & zwei davon mit Stock, gehen sonntäglich zusammen Mittag essen & später in einem anderen Lokal & anderen Stadt zum Nachmittagskaffee – und jedes Mal stimmen die Abrechnungen der Bedienungen nicht, weil auf ihnen nicht verzehrte Positionen in der Höhe von jeweils 4-6 € angeführt wurden.
Nur weil eine Person der Bewirteten, anstatt wie bisher den Rechnungslegungen blindlings vertrauend, sich die Rechnungen genauer angesehen hatte, stellte sie die unkorrekten Rechnungen fest. Die beiden Bedienungen, auf ihr Fehlverhalten angesprochen, dachten nicht daran, sich (gar peinlich berührt & wortreich) zu entschuldigen, sondern stellen mit einem kurzen (um nicht zu sagen: unwilligem) „Sorry“ die revidierte Rechnung her.
Meine Spekulation: es war kein Zufall & Versehen, sondern es waren zwei Betrugsversuche und zwar nicht in Spelunken & Klitschen, sondern in der „gutbürgerlichen Gastronomie“! Das ist mehr als eine misstrauische Unterstellung, die sie sein könnte, wenn mir nicht schon zweimal ein paar Tage zuvor in einem andern Restaurant & beim Kauf in einer Metzgerei aufgefallen wäre, wie mir eine falsche Rechnung ausgestellt & zu wenig Wechselgeld zurückgegeben werden sollte.
Ich vermute aufgrund solcher Erfahrungen & Beobachtungen, die fixen Bedienungen haben längst schon in der unübersehbar angewachsenen Zahl älterer Gäste eine Quelle für kleine illegale Zusatzabschöpfungen erkannt. Versuchen kann man es je mal – je nach Einschätzung der mentalen oder psychologischen Verfassung der Älteren & oft auch Betuchten. Es war dieser Generation der Älteren noch selbstverständlich, der Bedienung & ihrer korrekten Abrechnung zu vertrauen – zumindest in der einem selbst adäquaten bürgerlichen Gastronomie. Die Rechnung „auf Heller & Pfennig“ nachzuprüfen, gilt in diesen Kreisen oft noch als kleinlich, kleinbürgerlich, weil es ein Misstrauen des Gastes gegenüber der Bedienung der Gastwirtschaft zu annoncieren schien, das man entweder nicht hatte oder nicht offenbart sehen wollte, weil es dem Selbstbild des Großzügigen nicht entsprochen hätte.
Anderseits haben nicht wenige dieser Alten manchmal kleine Probleme beim Umgang mit dem Geld beim Bezahlen, die sie als Unsicherheit oder auch nur bloß als Ungeschicklichkeit nicht gerne öffentlich gemacht zu sehen wünschten. Die Bedienungen wiederum erkennen ihren Vorteil bei dieser Klientel darin, dass es ihrer älteren Kundschaft in der Regel womöglich nicht auffällt, wenn sie ein wenig „beschummelt“ werden. Denn „ohnehin trifft es ja keine Armen“, denn diese Generation scheint ja z.T. noch von lukrativen Renten zu leben…Ohnehin ist das soziale Klima in der deutschen Wohlstandsgesellschaft, in der man permanent aufgefordert wird, sich etwas zu „sichern“ & ein „Schnäppchen zu machen“, allgemein kälter geworden & etwaiges Vertrauen in die Großzügigkeit des Andern eher als unerlaubte soziale Dummheit, denn als achtenswerte menschlich-persönliche Qualität angesehen wird.
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Selbstschutz – Beim wiederholten Nachdenken über G.K. Chestertons eben erstmals auf Deutsch vorgelegte Essays „Euthanasie und andere Übel“ (Suhrkamp-Verlag) scheint mir ein vom Autor nicht geäußerter Gedanke ad se ipsum von besonderer, nahezu existenzieller Relevanz zu sein.
Chestertons fundamentale Kritik an der Eugenik entzündet sich an einem Gesetz von 1914. In diesem „Mental Deficiency Act“ wird der Wahnsinn nicht klar genug definiert, so dass potentiell nach Chestertons Worten „alle Menschen unter die Kuratell der Irrengesetze“ gestellt & leichter weggesperrt werden können. Welche Gefahr für jeden Menschen unserer Gesellschaft in einer juristisch allzu leicht handhabbaren psychiatrisch gerechtfertigten Wegsperrung vorliegt, hat eben der skandalöse Fall des Gustl Mollath vor alle Augen geführt.
In der britischen Kultur kommt dem Individuum & dem jeweils spezifisch Individuellen ein besonders hoher Wert zu. Deshalb ist der Typus des Exzentrikers in allen möglichen individuellen, habituellen & intellektuellen Ausprägungen auf den Britischen Inseln so häufig & selbstverständlich (seit der habeas-corpus-akte?) verbreitet. Man denke z.B. nur an Beau Brummel, der mit einer Schildkröte öffentlich spazieren ging. Die menschliche „Abweichung von der Norm“ ist in GB, wo andererseits jedoch aber auch der „common sense“ hoch in Kurs steht, keine „verdächtige“ Verhaltensweise, bei deren Ausübung man befürchten müsste, für „nicht ganz voll genommen“ zu werden oder gar „ein Fall für die Anstalt“ zu sein.
Chesterton konvertierte nicht nur zum Katholizismus & erfand die Figur des Pater Brown, dessen erfolgreiche kriminalistische Erkenntnis-Energie darin bestand, sich in die Psyche der von ihm überführten Verbrecher jederzeit hineinversetzen zu können. Neben seinen Romanen verteidigte Chesterton auch mit messerscharf rational argumentierenden Essays z.B. „den Nonsense“, „hässliche Dinge“, „Hausgötter und Haushaltskobolde“ oder „Porzellanschäferinnen“ ebenso ernsthaft wie schelmisch.
Er war ein frohgemuter Liebhaber des Paradoxen, das ja nicht gerade zu den Insignien des „Normalen“ gehört. Deshalb verteidigte er die menschliche Spezies in allen ihren individuellen Facetten & wollte zurecht die individuelle Psychiatrisierung auf einen schmalen, genau definierten Lebensbereich eingeschränkt sehen. Sonst wäre einer wie er womöglich leichthin selbst in die Gefahr gekommen, als „irr“ klassifiziert zu werden. Es war also auch bewusst oder unbewusst Selbstschutz, was den Polemiker Chesterton gegen den „Mental Deficiency Act“ befeuerte.
Wolfram Schütte
Foto Dreyer: Erling Mandelmann. Wikimedia Commons, Quelle.