Geschrieben am 3. Oktober 2016 von für Litmag

Veranstaltungskritik: „Die Töchter der Sonne“

before_machu_picchuVom Zauber der Uraufführung und ein wenig Poetologie

Von Markus Pohlmeyer.

Legendenbildung

Es war einmal im Jahre 2012, als mich der Komponist Andreas N. Tarkmann in Flensburg besuchte: er habe ein Was-Ist-Was-Buch zum Thema Inka[1] gelesen und dann den Autor (Bernd Schmelz, Altamerikanist im Völkerkundemuseum Hamburg) kontaktiert und ihn gefragt, ob er einen Dichter kenne, der ein Libretto zu einer Komposition des Mädchenchors Hannover[2] schreiben könne. Bernd Schmelz und ich arbeiteten seit vielen Jahren schon zusammen; und auf diesem (Um)Wege entstand der Kontakt. (Und natürlich gibt es auch noch andere Legenden zur Genese, aber …)

Mythopoetik

Andreas N. Tarkmann fasst die Funktion der Sonnenjungfrauen so zusammen: „Mädchen, die frühzeitig aus ihrem Familienverband herausgelöst wurden und isoliert in einem klosterähnlichen Komplex lebten. Sie widmeten sich der Ausgestaltung des religiösen Sonnenkults der Inka, wozu das Weben feiner Textilien wie auch die Zubereitung eines rituell bedeutsamen Maisgetränks gehörte. […]..“[3] Diese Mädchen konnten gewissermaßen auch politisch verheiratet werden.

Am Anfang versuchte ich, das mir Fremde durch Vertrautes, Analoges anzueignen. So verglich ich in der 1. Fassung meiner Gedichte das vorgeschlagene Inka-Thema spontan mit dem römischen Vestalinnen-Kult, so wie z.B. der Historiker Tacitus die Götter der Germanen mit römischen Namen beschrieben hat (interpretatio romana). Nach Gesprächen mit dem Inka-Spezialisten Bernd Schmelz habe ich den römischen Aspekt herausgenommen, weil scheinbar Ähnliches doch nicht Gleiches ausdrückt, denn die kulturellen Unterschiede waren hier zu groß! Außerdem wies mich Bernd Schmelz auf die sehr schwierige Quellenlage hin und dass es nur sehr wenige gute Aufsätze auf Deutsch zu dem Thema Inka gebe. Da die Inka über kein Schriftsystem verfügten, ist vieles aus christlicher, sagen wir ruhig: ideologisch-propagandistischer Sicht dargestellt und überliefert worden (interpretatio christiana), was den Zugang zur Inka-Kultur ungemein erschwert. Welches unsägliche Unrecht den indigenen Völkern Südamerikas von den sog. Christen angetan wurde, soll hier nicht dargestellt werden, bestimmte aber auch unterschwellig den melancholischen Ton meiner Gedichte: die Ahnung vor dem Untergang. So endete die 3. Zyklus-Fassung im Gegensatz zum Libretto und zum furios-tänzerischen Finale der Komposition traurig und düster.

Nach den Wünschen des Komponisten Andreas N. Tarkmann – Bitte Figuren und Charaktere, Dramaturgie und Entwicklung! Und bitte das schwer singbar i vermeiden! – waren Episches und Dramatisches in diesen lyrischen Text einzuweben – und dazu noch m(i)t Bl(i)ck auf d(ie) S(i)ngbarkeit! (J) Meine interpretatio mythopoetica versuchte, Rücksicht zu nehmen auf die Inka-Mythologie und -Hierarchie als bestimmendes Denksystem der verschiedenen Stimmen innerhalb der Gedichte, um Evidenz zu schaffen – aber ohne den Anspruch, etwa als poeta doctus ethnologisch rekonstruieren zu wollen. Die Texte (und auch die Musik) sind weder Archäologie oder gottbewahre! irgendein Folklore-Kitsch. Ich stellte mir vor, wie diese jungen Mädchen und Frauen hätten denken und fühlen können. Und damit entstand eine interpretatio humana: Verlust, Verliebtsein, Todeserfahrung, das Neue und die Entwurzelung, sozialer Aufstieg oder nur ganz brutal eine Ware zu sein in einem (politisch-sakralen) Tauschsystem. Intertextuell schwingen hier auch das Weber-Drama von Hauptmann und das Weber-Lied von Heine mit. Was von der Antike blieb, waren vor allem Stimmungen: von Catulls Liebesleidenschaft und Sapphos wunderschönen Naturschilderungen.

Es folgt nun exemplarisch ein Auszug aus meinem Gedichtzyklus, in dem zwei unterschiedliche Stimmen (dunkel und hell – die Architektur der Texte!), besser: zwei gegensätzliche Gestimmtheiten verschiedene Reaktionen auf die neue, ungewohnte Situation ausdrücken:

„Von würdigen Ahnen,
Erhaben und groß,
Wurde aus reicher Provinz ich erwählt,
Die schönste Zierde meiner Familie.
Darf nun wohnen in Cuzco,
Dem Nabel der Welt.
Muss nur beugen mich dem Inka,
Dem Sohn der Sonne, dem
Herrscher über vier Straßen.
Darf ihm weben feine Stoffe,
Reiche Gewänder, die
Auch Göttern ziemen.

Still ist es in diesem Haus
Und fremd, ein armes
Mädchen bin ich
Aus armer Provinz.
Sie holten mich hierher
Zum Götterdienst.
Schön und schwer meine Erinnerung:
Da trugen Kartoffeln wir Kinder
Auf schaukelnden Brücken
Über reißende Flüsse.
Dort unten lauerte der Tod.
Und abends am Feuer lachten
Wir über unseren Mut.
Hier ist alles so ernst und fremd,
Meine Familie so fern.
Das Schweigen nagt
Wie Wasser am Fels,
Und bald
Werde ich mich
Verloren haben,
Dort unten.“[4]

Die Uraufführung

… von „Töchter der Sonne. Eine Inka-Kantate“ fand am 25. September 2016 um 17 Uhr in der Christuskirche/Hannover statt. Ausverkauft! Minutenlanger Applaus! Die Gesamtleitung hatte Gudrun Schröfel. Es sang der Mädchenchor Hannover; es spielte das Arte Ensemble (mit Sharon Kam an der Klarinette): hoch konzentriert – mit subtiler Leidenschaft und fulminanter Feinheit!

Für mich war es eine überwältigende Erfahrung, nämlich die in der Abstraktion von Schrift eingewobenen Gefühle entfaltet zu sehen und zu hörenmeine Gedichte sehen, hören, spüren können! – durch die Musik, durch den Gesang, dadurch dass der Chor auch geschickt und kunstvoll im Kirchenraum agierte. Dieses Heraustreten aus dem Text in eine Komposition hinein, diese Ekstase und Transzendenz wurden geradezu körperlich erfahrbar, so dass ich immer noch ein wenig wie in Trance bin, mich wieder irgendwie im Alltag zurechtfinden muss. Ähnlich erging es auch manchen meiner Gäste.

Die Entstehung dieses Werkes hatte sehr viel transitorische Momente, viele Prozesse der Übersetzung und der Umsetzung: die Umstellungen und Erweiterungen im Libretto haben wir gemeinsam besprochen und begründet, so dass der Zyklus selbst am Ende aus verschiedenen Zyklen und Fortschreibungen bestand, bis er eingeschrieben wurde in die Klangtextur der Musik.

Noch immer höre ich diese Musik, die Sängerinnen: klagend, tuschelnd, jubelnd, verzaubertes Schimmern des Mondes … Wunderbar komponiert, wunderbar dirigiert, wunderbar gesungen und gespielt! Andreas N. Tarkmann meinte, vielleicht habe es auch daran gelegen, dass Musik und Text gleichberechtigte Partner waren. Das gilt auch für Chor und Orchester. Vielleicht ebenso am Thema: auch die Sonnenjungfrauen der Inka haben gesungen.

Es war einmal in Hannover, im Jahre 2016 … Darum – in tiefer Dankbarkeit – ein großes, mein größtes Kompliment an den Mädchenchor, die Musikerinnen und Musiker, an Bernd Schmelz, Gudrun Schröfel und Andreas N. Tarkmann.

Markus Pohlmeyer

[1] L. Frühsorge – B. Schmelz: Maya, Inka und Azteken, Nürnberg 2011.
[2] www.maedchenchor-hannover.de
[3] A. Tarkmann, in: Programmheft, hg. v. Mädchenchor Hannover, 2016, 16.
[4] Text: M. Pohlmeyer. Diese beiden Gedichte hier abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Igel-Verlages Hamburg (www.igelverlag.de). Dort wird auch der Gedichtzyklus von mir herausgegeben, begleitet durch einen Kompositionsbericht von A. N. Tarkmann und einer ethnologischen Aufarbeitung des Themas durch B. Schmelz; Erscheinungsdatum: voraussichtlich Ende 2016.