Geschrieben am 3. Oktober 2015 von für Comic, Kolumnen und Themen, Litmag

Thomas von Steinaecker: Comics! Boom! Boom? (Rede Comicbuchpreis 2015)

5._v.Steinaecker.WebEINLEITUNG DER REDAKTION: Es gibt Reden, die klug sind, passend zum Anlass, eloquent und witzig, und eine halbe Stunde später hat man sie vergessen. Und dann gibt es Reden, die fallen einem ein halbes Jahr später noch ein. Eine solche Rede hielt der Autor, TV-Regisseur und Comic-Journalist Thomas von Steinaecker im Mai dieses Jahres anlässlich der Verleihung des ersten Comicbuchpreises der Berthold Leibinger Stiftung an die Künstlerin Birgit Weyhe. Sie erzählt von Kunst und Zeit, von Comic-Künstlern und  Fördertöpfen und von einem Medium, das gemessen an seinem monetären Ertrag eigentlich gar nicht existieren dürfte: „Jede Graphic Novel, die unter diesen Bedingungen entsteht, ist ein kleines Wunder.“

Wir danken dem Autor  für die freundliche Erlaubnis, seine Rede  in voller Länge abzudrucken. – Brigitte Helbling

Comics! Boom! Boom?

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich möchte heute in aller Kürze etwas zu dem Comic-Boom sagen, den wir seit ein paar Jahren erleben und dem wir nicht zuletzt auch, als schöne Folge, diesen Preis verdanken. Aber wie kommt es überhaupt dazu, dass die vormals vor allem in Deutschland als Schund geschmähten Alben mit „bunten Bilder“ plötzlich regelmäßig im Feuilleton besprochen werden und stapelweise in Buchhandlungen liegen? Und welche Auswirkungen hat das für die Produktion von Comics in Deutschland? Wohin gehen wir? Und was könnten wir noch für die weitere Reise gebrauchen?

Natürlich war ich als Kind ein Fan von „Asterix und Obelix“ und dem „Lustigen Taschenbuch“ gewesen. Aber wie für die meisten hierzulande waren Comics auch für mich ab einem gewissen Alter nicht mehr interessant. Nicht nur weil die öffentliche Meinung über sie eine negativ gefärbte war: etwas für Kinder; sondern, weil es auf den ersten Blick tatsächlich nur wenige bzw. keine Comics gab, die mich genauso gepackt hätten wie Tolstoi oder Kafka. Ein einziges Comic-Buch kaufte ich mir noch zu Schulzeiten als Gymnasiast Anfang der 1990er, aber nicht weil es in der Schule Thema gewesen, sondern weil in den Zeitungen darüber so viel geschrieben worden war: „Maus“ von Art Spiegelman. Die meisten von Ihnen werden das Buch kennen: die Geschichte eines Holocaust-Überlebenden als mehrere hundert Seiten lange, tief bewegende und komplex erzählte Tierfabel. Eines der bleibenden Kunstwerke des 20. Jahrhunderts. Vielleicht war „Maus“ für mich damals, als Schüler, noch zu düster und schwierig; ich nehme aber an, dass der Grund ein anderer war, warum mich „Maus“ nicht zur Lektüre weiterer Erwachsenen-Comics führte, die es ja damals auch gab, wenn auch nicht in dieser Fülle: Comics kamen in den Medien nicht vor. Und deshalb auch nicht im Buchhandel. Sie führten eine Nischenexistenz in einer Parallelwelt mit eigenen Magazinen und Läden, eine eigene Szene, die vielleicht auch ganz stolz darauf war, dass sie anders und alternativ war.

Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch…

„Boom!“ gemacht hat es bei mir persönlich in Sachen Comic um die Jahrtausendwende. Es gibt nicht viele Bücher, deren erste Lektüre mir derart intensiv im Gedächtnis geblieben ist, wie Chris Wares „Jimmy Corrigan“. Dieser Comic war anders, als das, was ich bisher gelesen hatte. In gewagten Zeitsprüngen erzählt „Jimmy Corrigan“ auf über 380 Seiten von drei Generationen einer typischen US-Familie. Es ist vielleicht nur Zufall, aber ein im Nachhinein aufschlussreicher, dass Wares Familien-Comic 2001 zeitgleich mit einem Roman erschien, der in der Literatur eine Rückbesinnung auf das klassische realistische Erzählen markierte: Jonathan Franzens „Die Korrekturen“. Doch was hier, in der Belletristik, in seiner klassischen Form fast schon reaktionär wirkte, war im Comicbereich Teil einer Revolution: Die Neunte Kunst öffnete sich Stoffen und Erzählformen, die man bisher vor allem in der Literatur verortet hatte.

Aber wie war ich überhaupt auf „Jimmy Corrigan“ gekommen? Eine, wenn auch nicht ausschlaggebende, für mich persönlich aber signifkante Voraussetzung für die Sprengung der Comic-Nische, waren die Algorithmen des Internets und – ich traue es mich gar nicht zu sagen – die ebenso simple wie bahnbrechende Funktion auf Amazon: Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch usw. „Jimmy Corrigan“ war lediglich eine Empfehlung Amazons gewesen aufgrund meines Lektüreverhaltens, das bis dahin rein belletristisch geprägt gewesen war.

All das hätte aber natürlich nicht zu dem Boom geführt, von dem hier die Rede sein soll, hätte es nicht unversehens – und in diesem Fall fällt die plötzliche Ballung wirklich auf – um die Milleniumswende mehrere ungemein starke Titel in der Neunten Kunst gegeben. Die Jahrtausendwende markierte so etwas wie den Durchbruch für die breite öffentliche Wahrnehmung des Comics – was maßgeblich an zwei Werken liegt, die zu internationalen Bestsellern wurden: „Blankets“ von Craig Thompson, 2003 erschienen, über eine unglückliche Teenager-Liebe in der nordamerikanischen Provinz, und, vor allem, „Persepolis“ von Marjane Satrapi, der letzte Band erschien im französischen Original ebenfalls 2003. Besonders Satrapis Werk erwies sich als äußerst publikumswirksam. Auch wenn „Maus“ künstlerisch komplexer und anspruchsvoller ist – erst „Persepolis“ hatte etwas, das am Ende weltweit über eine Million Leser begeisterte: Satrapis Erinnerungen an ihre Kindheit im Iran bearbeiteten ein historisch wichtiges und bedrückend-ernstes Thema, aber sie taten dies mit Zeichnungen von umwerfendem Charme und Witz sowie großer Poesie. Sie waren das, was landläufig ein „großes Lesevergnügen“ genannt wird, und damit auch ein kommerzieller Erfolg.

Sind Comics Literatur?

Untrennbar mit dem Boom des Comics verbunden ist der Begriff der Graphic Novel, der bei Buchhändlern für freudiges Nicken sorgt, in Comickreisen mittlerweile jedoch für zaghaftes Kopfschütteln, und der vor allem Definitionsprobleme verursacht. Man könnte sich darauf einigen: „Maus“, „Jimmy Corrigan“ und „Persepolis“ sind Graphic Novels in erster Linie wegen ihrer epischen Länge und dann zudem, weil sie ein ernstes Thema behandeln. Sie sind aber vor allem: Comics. Dieser Begriff, der dem Ernsten und damit Ernsthaften entgegen zu stehen scheint, war sicher immer ein Lektüreverhinderungsgrund für viele, die mit dem Label einer Graphic Novel weniger Probleme hatten. Das Kind hatte einen neuen alten Namen (der bereits 1978 vom Amerikaner Will Eisner geprägt wurde). Graphic Novel. Das war zwar noch immer Englisch und keiner wusste, was es bedeuten sollte; aber das Wort Novel / Roman verbreitete das Gefühl, man habe es mit Kunst zu tun. Genauer: mit Literatur. Und um vor dem skeptischen Publikum die Aufwertung der zuvor so vehement geschmähten Bilderzählungen zu rechtfertigen, sprachen viele Kritiker hierzulande kurzerhand von „literarischen Comics“ oder gleich: von Literatur. Comics sind Literatur.

Keine Frage, die erfreulichen Folgen des Comic-Booms sind für alle überall sichtbar. Nur ein Beispiel und ich führe das lediglich an, weil es mir selbst etwas veranschaulicht, es gäbe sicher noch bessere: Als ich vor zehn Jahren ein Praktikum in einem der wichtigsten Comicverlage Deutschlands machte, bei Reprodukt in Berlin, bestand der Verlag im Wesentlichen aus zweieinhalb Festangestellten, darunter dem Besitzer des Verlags, die in Selbstausbeutung in einem düsteren Büro in einem Berliner Hinterhof zwischen Comicheftbergen an ihren privaten Laptops arbeiteten. Heute hat sich Reprodukt in jeder Hinsicht verdoppelt: doppelt so große, doppelt so helle Büroräume, doppelt so viele Angestellte, eigene Rechner, doppelt so viele Buchtitel, die durch ein ausgebautes Netz von Vertretern in den Buchhandel gebracht werden. Wir befinden uns am Höhepunkt eines Comic-Booms in Deutschland. Das ist erfreulich, aber Grund zum überschwänglichen Jubeln ist es dennoch nicht. Warum?

Zum einen: Weil ich immer wieder erlebe, wie brüchig die Etablierung der Neunten Kunst hierzulande ist. Das länger anhaltende Interesse an Comics in den Medien, die regelmäßigen Besprechungen, die es braucht, um ein Publikum an den Comic heranzuführen, verdanken sich der Initiative Einzelner in den Redaktionen. Ein Selbstverständnis, dass Comics natürlich Kunst sind, was sollen sie sonst sein?, hat sich noch lange nicht breit gemacht. Traurig der Auftritt der populären Kritikerin Thea Dorn in der Literatur-Sendung „Druckfrisch“, in der 2013 von Denis Scheck die deutsche Übersetzung von „Jimmy Corrigan“ vorgestellt wurde. Während der Sendung musste Dorn von Scheck überzeugt werden, dass es sich nicht um ein Kinderbuch handele. Doch Bekehrung zwecklos. Ihr Fazit lautete: „Comics sind etwas für verschreckte Nerds.“

Das profane Paradox als Folge des Booms

Aber in gewisser Weise genauso falsch, wenn auch ehrenhaft, ist es meiner Meinung nach, Comic als Literatur zu bezeichnen. Denn zum einen wird auf diese Weise genau jene Eigenständigkeit in Frage gestellt, die nötig wäre, um den Comic als ernstzunehmende Kunstform dauerhaft zu etablieren. Zum anderen lag und liegt bei den meisten Comics die Betonung auf der Form und weniger auf den traditionellen Qualitäten des Erzählens wie Komplexität der Handlung und Figuren. Diese Erwartungshaltung, in Comics Romane zu sehen, kann nur zu Enttäuschungen führen. Ein passenderer Vergleich des Comics mit einer etablierten Kunstform schiene mir eher jener mit dem Film, dessen unmittelbare Vorform, das Storyboard, viel mehr mit dem Comic zu tun hat als jede reine Worterzählung. Und vor allem, ein weiteres Argument gegen die Verengung des Comic-Begriffs als Graphic Novel: Eine der großen Stärken des Comics lag eigentlich gerade immer in seiner Kürze. Kann man präziser, poetischer und rührender etwas über die Welt sagen als Charlie Brown und Snoopy in den „Peanuts“? Was für eine große Kunst der Beschränkung, das nicht auf 300 Seiten, sondern in oft nur vier kleinen Bildern zu tun!

Aber der Boom des Comics als Boom der Graphic Novel führt noch zu einem viel profaneren Paradox. Bleiben wir einmal kurz bei dem Vergleich Literatur und Comic und lassen Sie mich aus eigener Erfahrung ausführen, wie normalerweise der Entstehungsprozess eines Romans verläuft. Ein Autor hat eine Idee. Wenn er kein Debütant ist und Glück hat, ist er bei einem größeren Verlag, so wie ich bei S. Fischer. Weil S. Fischer Teil eines größeren Konzerns ist, der die kommentierte Werkausgabe Thomas Manns nicht zuletzt auch mit Büchern wie Tommy Jauds „Hummeldumm“ querfinanziert, kann er mir, einem Autor, der nie seine Produktionskosten einspielt, einen großzügigen Vorschuss zahlen, der mir ein Jahr lang den Rücken freihält. Natürlich reicht das nicht für die Arbeit an einem Roman, der normalerweise drei bis vier Jahre bis zu seiner Publikation braucht. Ich habe also – relativ untypisch für einen Schriftsteller – einen Brotberuf als Regisseur; aber um wirklich konzentriert an meinem Buch zu arbeiten, brauche ich natürlich auch einmal ein paar Monate, in denen wirklich nichts nebenher passiert. Wenn ich Glück habe, erhalte ich dafür ein Stipendium oder einen Preis. Das ist in Deutschland nicht ganz unmöglich. Es gibt über 300 Preise und Stipendien für Autoren, mehr als in jedem anderen Land. Nach drei, vier Jahren also erscheint das Buch, normalerweise schließen sich daran Lesungen an, die auch noch einmal eine Finanzierung für vielleicht ein halbes Jahr bringen. Und dann beginnt wieder alles von vorne. Das sind trotz allem schwierige Bedingungen; die Unwägbarkeiten einer solchen Existenz brauche ich Ihnen nicht auszumalen. Jeder, der Autor wird, ist selber schuld.

Das kleine Wunder

Aber schauen wir einmal zum Comic, der ja angeblich auch Literatur ist. Was die Verlage nolens volens seit etwa zehn Jahren wollen, weil es sich als Graphic Novel labeln lässt, sind Langcomics. Man muss nicht Über-Perfektionisten wie Spiegelman oder Ware als Orientierung heranziehen, die für ihre Werke mehr als zehn Jahre gebraucht haben, aber veranschlagen wir auch für die Arbeit an einem Langcomic etwa 4 Jahre – auch wenn man es hier, genau genommen, mit zwei Ebenen zu tun hat, dem Wort und dem Bild, man also eigentlich länger braucht. Der Zeichner wird also wie der Autor zu seinem Verlag gehen und um einen Vorschuss für die erste Finanzierung bitten. Von Verlagen wie Reprodukt oder Avant oder auch Carlsen, den wichtigsten Comic-Verlagen in Deutschland, wird er eine relativ bescheidene Summe erhalten, vielleicht 5 000 Euro. Denn, ein wichtiger Unterschied zu Konzernverlagen in der Literatur: Die Quersubventionierung fällt hier weitestgehend flach. Auch wenn wir von einem Boom in Deutschland sprechen, bedeutet das nicht überwältigende Absatzzahlen. Wir sprechen hier eher von dem Unterschied von vorher markttechnisch nicht relevanten Absätzen zu relativ geringen Umsätzen. So verkaufte letztes Jahr ein in allen Medien, auch im Fernsehen, vielfach und groß besprochener Comic wie Mawils „Kinderland“ über eine Kindheit in den letzten Tagen der DDR, etwas mehr als 10 000 Stück, wenn ich richtig informiert bin (Stand: Winter 2014). Und das ist ein Spitzentitel. Wer soll da wen finanzieren, zumal die Lizenzen für ausländische Erfolgstitel aufgrund des vermeintlichen Booms, der aber oft eher eine Blase ist, in die Höhe schießen? Der Zeichner konnte also mit seinem Vorschuss vielleicht ein halbes Jahr in Ruhe arbeiten. Nebenjobs hat er sowieso, Familie sowieso keine (meistens). Kommt er auf die Idee, sich für ein Stipendium zu bewerben, erlebt er in Deutschland eine Enttäuschung: 300 Literaturstipendien stehen ein, zwei Comic-Preise gegenüber, auf der Verleihung des einen und höchst dotierten befinden wir uns gerade. Es gibt etwas anderes als Stipendien für Zeichner, allerdings auch das verschafft ihm nicht wirklich Ruhe: Wenn er Glück und schon einen Namen hat, wird er vom Goethe-Institut im Zeichen der Völkerverständigung und für die deutsche Kultur ins Ausland, nach Ägypten oder Indonesien, geschickt, um dort Comickurse zu geben. Hier enden die Fördermöglichkeiten. Wie man unter diesen Bedingungen Comics von mehreren hundert Seiten produzieren soll, ist mir ein Rätsel, jede Graphic Novel, die unter diesen Bedingungen entsteht, ein kleines Wunder.

Ich will aber nicht allzu skeptisch schließen. Mir gibt dieser Preis und auch die Rede von Herrn Professor Leibinger berechtigten Anlass zur Hoffnung. Hoffnung auf eine Signalwirkung dieses Preises. Hoffnung, dass die zahlreichen Kunstförderungen in diesem Land mehr für den Comic tun, auch wenn die klassischen Einrichtungen wie der Deutsche Literaturfonds darauf verweisen, Comics fallen, anders als Hörspiele, nicht in ihr Sachgebiet. Hoffnung, dass sich Literatur und Comic bei allen Unterschieden noch mehr annähern, und sich am Leipziger Literaturinstitut oder an der HAW Hamburg auch einmal Zeichner und Autoren austauschen.

Boom? Welcher Boom? Mehr Boom!

Das wünsche ich uns, meine sehr verehrten Damen und Herren.

Thomas von Steinaecker

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