Geschrieben am 19. Juli 2011 von für Litmag

Schuldt zum Siebzigsten

Gestaltschmerz ist kein Alibi für New York und Shanghai

– Zum Siebzigsten des Wort- & Bildkünstlers Schuldt. Von Jürgen Verdofsky.

Schuldt ist Sohn eines Reeders und ging schon aus ästhetischen Gründen der Hamburger Bourgeoisie verloren. Allein sein Gelächter würde im Überseeclub Gläser bersten lassen. Bereits im Namen ist alles Private getilgt, erst recht im Werk. Schuldt kann man sich nicht nähern, ohne seine Exzentrik als eine Unbedingtheit in künstlerischen Belangen zu verstehen. Wer sich dem gewachsen zeigt, und man unterschätze das nicht, wird hinter seinen Wortkaskaden nicht nur einen Schnelldenker und Vielkönner erkennen, sondern auch einen, der Begabung und Wissen verstreut. Seine Kenntnisse sind furchterregend. Wenn er über die Moderne spricht, ist er enzyklopädisch. Der Umgang mit Schuldt ist wie eine Teilhabe an einer Weltformel. Er hat einige gezählte Freunde, die über seine Person nur in Anekdoten sprechen, aber seine innovative Unruhe aufs Höchste bewundern. Nicht zuletzt intellektuelle Frauen.

New Order (Twice-Fried Wall). 2004.

Auch auf Podien brilliert er mit präzis durchdachten Sätzen als Polemiker mit seiner Witterung für alles Falsche. Für ihn bleibt Widerspruch die normale Umgangsform – ein freier Geist, niemandem verbunden als sich selbst. Sein gelassenes Selbstbewusstsein ist gedeckt von einem weitgedehnten Schaffen, es kann auf öffentliche Bestätigung verzichten. Im Alltag des Kulturbetriebs zeigt er sich wie auf seinem Rennrad: beschleunigt und atemlos. Auf alle geläufigen Anpassungsmanieren verzichtet er. Wie weit das geht, zeigte ein Auftritt im Literaturhaus Hamburg. Schuldt kam zu spät, fuhr mit dem Rad fast auf das Podium, bemängelte das Licht. Während die Literaturhausleiterin um Abhilfe eilte, ließ Schuldt ihren Einführungstext verschwinden. Dass er ihn aufgegessen haben soll, ist die Freiheit der Anekdote, alles andere wird hier bezeugt. Schuldt leidet meist unter akademisierten Worten, die über ihn gesagt werden. So hat er einen Vertragstext entworfen, nach dem sich sein Honorar zu verdoppeln habe, wenn eine Einführung gehalten werde.

Das Hochfliegende bei Schuldt erfuhr frühe Prägung. Achtzehnjährig gehörte er zu der Künstlergruppe, die angeführt von Friedensreich Hundertwasser und Bazon Brock eine Kilometer lange „Endlose Linie“ über das Gelände der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg zog. Zum Aktionskünstler war es dann nur noch ein Schritt. 1960 hängte Schuldt in einer leerstehenden Hamburger Villa leere Bilderrahmen oder unbemalte Leinwände. Er nannte das eine „Internationale Ausstellung von Nichts“. Auch als Hörfunk-Autor und -Regisseur arbeitete er unerschrocken an Ton-Collagen, die Kurt Schwitters, Oskar Pastior oder Carlfriedrich Claus auf sehr eigene Art folgten. Immer hat Schuldt etwas gefunden, entdeckt, erkannt. Übereinandergelegte Tonspuren. Wort, Ton oder Lautgestaltung, die sich im Nichts der Stille auflösten.

Schuldt bleibt auch als Dichter ein Einzelgänger, allein mit der Bielefelder Schule gibt es Berührungen. Sein früher Kontakt zu Expressionisten der zweiten Reihe ließ ihn mehr Grundierung aufnehmen, als er zu erkennen gibt. Aber Linien der Moderne folgt Schuldt auf sehr eigene Weise. Originell bis zum Exzess. Am deutlichsten ist das an seinen frühen Büchern zu erkennen: „Steinigung der Nacht“, mit Illustrationen von Hans Platschek (1960), „Blut des Metronomen“ (1965) und „Zweifel“ (1967). Seit seiner Zeit in New York blickt Schuldt mit Vorliebe von draußen auf das deutsche Sprachgetümmel wie in „Deutschland aufsagen, Deutschland nachsagen“ (Tonkassette, 1972) und „Mamelucken antworten. Akronyme“ (1984). In seinem Essay „Abziehbilder, heimgeholt“ (1995) heißt es: „Die Sprache ist der Tagtraum, den wir uns von der Welt machen, und mitten in diesem Tagtraum möchten wir weder einen Abgrund noch eine gläserne, aber undurchdringliche Wand dulden.“ Der Gedanke leitet über zu „Texten im Deutsch fremder Sprachen“.

Links. Atmospheric Composition. 2004.

In New York kreuzt sich Schuldts Weg mit dem des amerikanischen Dichters Robert Kelly. Schuldt übersetzt Kellys Kurzprosa „Geschichten aus Russisch“ (1995) und „Schlaflose Schönheit“ (1996), die als so geistesverwandt aufgenommen wird, dass das Feuilleton mutmaßt, Kelly sei ein Pseudonym von Schuldt. Aber Kelly gibt es, geboren 1935 in Brooklyn, unterrichtete er lange kreatives Schreiben am Bard College in New York. Kelly und Schuldt schaffen gemeinsam ein Meisterstück phonetischen Experimentierens. Schuldt liest Kelly die gut 120 Verse des Fragments „Am Quell der Donau“ von Hölderlin vor. Kelly holt es dem reinen Klang nach ins Englische. „Unquell the Dawn Now“ klingt es jetzt. Kelly spricht sich einen Weg nach dem Hören frei. Er übersetzt nicht. Seine Neuschöpfung kommt aus dem Laut, nicht aus dem Sinn. Schuldt kehrt danach das phonetische Verwandlungsspiel Kellys um und übersetzt sinngenau zurück ins Deutsche. Hölderlins Sprache ist völlig suspendiert, aber es geht nicht um eine schrittweise Vergröberung Hölderlins, nicht zum seine Adaption an eine heisere Moderne. Beide finden bei Hölderlin poetische Materie, eine „affektive Glut“, die sie zu Bildern ihrer Welt verarbeiten. Nicht sofort ward alles kenntlich. Nur ein Kritiker hat das Außergewöhnliche dieses Werkes zeitnah erkannt: Rolf Michaelis. Alles führte nicht weiter, Schuldt verstummte als Dichter. „Olga at the Cosmic Door. BHs, Parfüms und Bars. Schlagzeilen aus New York“ heißt 2000 sein letztes Buch.

Seit der Jahrhundertwende gibt sich Schuldt völlig überraschend der Fotografie hin, sucht Motivstrecken vor allem in New York und in China (Sezuan). Seine Ausstellung „A Patriot‘s Mecca“ in der Hamburger Kunsthalle zeigte 2003 großformatige Aufnahmen vom fahnentrunkenen New York nach dem 11. September. In den letzten Jahren haben lange Aufenthalte in China Schuldts Foto- Œuvre geprägt. Mauern über Mauern, nicht die Große Mauer, sondern das Mauerwerk im Reich der Mitte an sich. Ein Wallmovie. Wandgroß aufgezogene Bilder der Enge, Armut und Leere. Noch kälter die Bilder, die Schuldt in Serie von chinesischen Schaufensterpuppen machte. Schöne leblose Gesichter und Hände, nebeneinander gehängt eine Galerie gefrorener kalter Schönheiten. Man erwartet den Gerichtsmediziner, aber das ist schon Interpretation. In Shanghai hieß 2004 eine große Schuldt-Ausstellung „Bai Shi. Bilder vom Werden und Vergehen“. In Hamburg konnte man die Bilder, handwerklich auch beeindruckend in dem großflächigen Farb-Aufzug, 2007 als „Sichuan Portraits“ in der ArtChina Gallery, 2008 als „Walls of Time” im Museum für Kunst und Gewerbe und als „Three Mouths Are Better Than One” der Galerie Brockstedt sehen. In Berlin fanden die Puppenbilder mit „Stigmata – The Hand Is More Intimate Than The face”  den richtigen Titel im Medizinhistorischen Museum.

Das können sich nur wenige leisten: So wenig rückversichert sich zu zeigen wie Schuldt. Er verletzt Tabus, bricht Normen, was immer er macht. Er hat die Kraft, in Gegensätzen zu leben. Schuldt ist nicht festzulegen, der Ausgang ist offen. Es gibt Leute, die erwarten noch viel von Schuldt. Am 19. Juli feiert er seinen 70. Geburtstag in Hamburg oder in New York oder in Shanghai, niemand weiß es.

Jürgen Verdofsky

Zur Homepage des Künstlers. Foto: © Anita Schiffer-Fuchs