Geschrieben am 15. Dezember 2010 von für Kolumnen und Themen, Litmag, Sachen machen

Sachen machen: Bootsführerschein

Was braucht man vor allem fürs Übersetzen? Neben Sprachgefühl und Fachkenntnis? Neugier! Denn ohne die Fähigkeit, sich in fremde Personen und Situationen hineinzuversetzen, bleibt jede Übersetzung schal. Isabel Bogdan ist neugierig – aber ob sie deswegen Übersetzerin geworden ist, oder ob sie vom Übersetzerinsein so neugierig wurde, das wissen wir nicht. Jedenfalls wird sie für unsere neue Kolumne „Sachen machen – Isabel Bogdan probiert’s aus“ in den nächsten Monaten viel Skurriles, Abseitiges und Abenteuerliches ausprobieren, was gar nichts mit dem Übersetzen zu tun hat. In der ersten Folge wagt sich Isabel aufs Wasser …

Heute: Bootfahren

Ich hab kein knallrotes Gummiboot. Ich hab nur ’n Knall. Aber als Erster hatte Frank einen Knall.

Eines schönen Sonntags im September ruft Frank an und fragt, ob wir schon was vorhaben, er habe seiner Liebsten nämlich zum ersten Hochzeitstag ein Boot geschenkt, und ob wir mitfahren wollen. Du hast einen Knall, sagen wir, ein Boot? Nichts Besonderes, nichts Großes, sagt er, nur so ein kleines Plasteboot. Frank kommt aus dem Osten. Blöde Frage, natürlich wollen wir mit.

Das Boot ist vier Meter lang und hat ein kleines Verdeck, das wir aufmachen, denn die Sonne scheint, es ist warm und wir schippern den ganzen Tag auf der Bille und irgendwelchen Kanälen herum. Frank freut sich so über sein Boot, dass er vor lauter Glück nur noch lacht, seine Liebste auch und wir mit. Kinder, ist das herrlich. Wie geht das, dass Wasser und Sonne einen immer sofort so glücklich machen? Das Boot hat einen 5-PS-Motor, soll aber möglichst bald einen stärkeren bekommen, das ist klar, denn mit 5 PS traut man sich zum Beispiel eher nicht in den Hamburger Hafen. Wenn Wind und Strömung und Wellen sind oder ein großes Schiff einen Sog verursacht, dann kommen 5 PS nicht dagegen an, da schwimmt man fast besser selbst.

Für einen stärkeren Motor braucht man aber den Sportbootführerschein, und den, sagt Frank, will er machen, und jetzt kommt die Stelle, wo ich zum ersten Mal einen Knall habe: Ich sage, da mache ich mit. Und um das zu bekräftigen, fahre ich gleich mal ein Stück mit dem 5-PS-Boot und finde es super und will erst recht mitmachen.

Zwei Wochen später kommt eine Mail von Frank, es gebe da einen Kompaktkurs, drei ganze Tage, Samstag – Sonntag – Samstag im November, er wolle sich jetzt anmelden, ob er mich mit anmelden soll? Ich bin immer noch bootsglücklich und nicht ganz zurechnungsfähig und sage ja, soll er, bitte. Und dann freue ich mich, und zwischendurch hat Frank Geburtstag und wir schenken ihm eine Shanty-CD, und seine Frau schenkt ihm eine Kapitänsmütze, und dann wird es November, und Frank und ich sitzen in der Yachtschule.

Mit uns ein Haufen junger Menschen, die sagen, sie segeln schon seit sie „so klein“ waren, Bootsbesitzer, Reedereiangestellte, Angler, lauter Leute, die schon länger Boot fahren und große Bescheidwisser sind. Und ein Zahnarzt. Und dann werden wir drei Tage lang von morgens bis abends zugetextet mit Kollisionsverhütungsregeln, Seeschifffahrtsstraßenordnung, Emsschifffahrtsordnung, Betonnung und Lichterführung und Schallsignalen und Leuchtfeuern und Verkehrstrennungsgebieten, mit Steuerbordbug vor Backbordbug, oder war’s umgekehrt, und mit „ich wunder mich, dass ihr immer noch keine Pause wollt“, doch, wollen wir, es sagt nur keiner, ‚ich kann nicht mehr‘.

Am meisten Spaß machen die Navigationsaufgaben, da muss man mit zwei Geodreiecken, Verzeihung: Kursdreiecken und Zirkel hantieren und Bleistiftstriche in Karten malen und Winkel messen, das ist produktiv, das kann man verstehen, statt es nur auswendig zu lernen, super. Der Zahnarzt steigt aus, kurz vorm Verzweifeln, er kommt nicht mehr mit.

Abends kann man über unseren Köpfen kleine Rauchwölkchen sehen, Himmel, ist das viel Stoff. Ich bin plötzlich nicht mehr so sicher, was genau will ich eigentlich mit einem Sportbootführerschein? Habe ich ’n Knall? Das ganze Zeug lernen, wenn ich mir, mal ehrlich, wahrscheinlich nie im Leben ein Boot kaufen werde?

Nach den drei theoretischen Unterrichtstagen bekommt man eine praktische Fahrstunde (ja: eine), und ansonsten muss man halt lernen. Sich den Prüfungsstoff irgendwie in den Kopf schaffen, wie macht man so was noch mal? Ist man ja gar nicht mehr gewohnt.

Ich schiebe, wie es meine Art ist, das Lernen erst mal vor mir her. Bis zur praktischen Fahrstunde besteht meine einzige Vorbereitung darin, dass ich mir die wärmste lange Unterhose von ganz Hamburg kaufe. Oder zumindest die teuerste, denn viel hilft viel, weiß man ja. Meine Fahrstunde findet am kältesten ersten Dezember seit Beginn der Wetteraufzeichnungen statt. Minus acht Grad und Windstärke vier, man könnte meinen, ich hätte einen Knall. Das Übungsrevier wurde verlegt, weil die Bille schon Eisgang hat, wie wir Seefahrer sagen.

Aber die Sonne scheint! Und die Bootskabine ist geheizt! Wir sind zu zweit mit dem Lehrer und fahren zwei Stunden lang im Kreis und üben Boje über Bord und anlegen und noch mal Boje über Bord – „Boje über Bord an Backbord!“, ruft der Lehrer, und dann muss der Fahrzeugführer antworten: „Boje über Bord an Backbord! [zeigen, dass man es verstanden hat] Rettungsmittel auswerfen, Ausschau gehen!“, gleichzeitig muss man auskuppeln, das Ruder hart nach Backbord einschlagen, dann einen Kreis fahren, auf die Boje zu, schön langsam, kurz vor der Boje wieder auskuppeln, im richtigen Moment den Rückwärtsgang einlegen, anhalten, damit die Boje an Backbord wieder reingeholt werden kann. Wenn die Boje ein Mensch wäre, wäre sie schon längst erfroren. Die Boje ist aber eine Boje und trotzdem erfroren, es ist eine dicke Eisschicht um sie herum.

Dann anlegen. Mit dem Wind, gegen den Wind, mit der Strömung, gegen die Strömung, steuerbord anlegen, backbord anlegen, ich stelle mich, wenn ich ehrlich bin, nicht so rasend geschickt an, aber es ist auch wirklich viel Wind und viel Strömung, sagt der Lehrer, das seien schon verschärfte Bedingungen. „Boje über Bord an Backbord!“ – „Boje über Backbord an Bord, Rettungs-, äh, -dingsbums auswerfen, und, hier, was war noch? Gucken!“ Ach ja, und auskuppeln, und wie rum soll ich jetzt umdrehen?

Die Sonne scheint, und das Wasser glitzert, und dann kommt ein größeres Schiff vorbei und macht richtige Wellen, und ist! das! herrlich! Das macht so einen Spaß! Knall hin oder her, Boot fahren ist super. Und wenn’s beim Anlegen ein bisschen rummst, egal, Übungssache, ich hoffe, die Prüfer sehen das auch so. Wann muss ich noch mal in den Rückwärtsgang schalten? Kann ich bitte noch ein bisschen länger üben und noch ein bisschen öfter, nicht weil ich solche Angst vor der Prüfung hätte, sondern weil das so einen Spaß macht, und ein anderes Schiff habe ich ja zufällig nicht?

Zwei Tage vor der theoretischen Prüfung fange ich endlich an zu lernen. So gegen Abend. Und frage mich, ob ich eigentlich einen Knall habe. Das einzige, was ich schon kann, sind die Knoten, vielleicht hätte ich lieber einen Makrameeschein machen sollen. Sportbootführerschein, ich meine, echt jetzt mal, das ist ja ganz nett, aber braucht kein Mensch und es ist verdammt viel Stoff, ich hätte längst anfangen müssen. Und was man da auswendig lernen muss! Zum Beispiel, dass ein Blitz kürzer als zwei Sekunden lang ist. Ach nee. Im Gegensatz zu einem Blink übrigens, der ist länger als zwei Sekunden. Und man darf nie „rechts vor links“ sagen oder „Vorfahrt“, obwohl es stimmt, sondern muss immer vom „Kurshalter“ sprechen, der von steuerbord kommt, und vom „Ausweichpflichtigen“, der von backbord kommt. Sollte ich je mit Franks kleinem Plasteboot im Hamburger Hafen einem ausweichpflichtigen 120.000 TEU-Containerschiff begegnen, das mir einfach nicht ausweicht, dann weiß ich jetzt, dass ich fünf kurze Signaltöne geben muss, um den Kapitän darauf hinzuweisen. Falls er meine Tröte aus unerfindlichen Gründen nicht hören sollte, zwanzig Meter über mir auf seiner geschlossenen Brücke, muss ich das Manöver des letzten Augenblicks fahren. Das heißt wirklich so, und dieser poetische Ausdruck versöhnt mich gleich wieder mit der christlichen Seefahrt. Es gibt ein ganzes Buch über die Poesie der Beaufort’schen Windstärkentabelle, vielleicht sollte ich es mal lesen, zwischendurch, statt mich über die Beknacktheit der Fragen aufzuregen. Zum Beispiel über Was bedeutet dieses Zeichen (Durchgestrichener Anker)? Ankerverbot. Wie haben Sie sich zu verhalten? Äh, ich darf nicht ankern? Richtig! Wer hätte das gedacht. Oder hier: Was bedeutet „manövrierunfähig“? Na, dass das Ding nicht manövrieren kann. Stimmt inhaltlich zwar, logisch, dummerweise muss es irgendwie komplizierter formuliert werden. Sensationell auch diese Frage: Wie haben Sie sich beim Befahren von Naturschutzgebieten und Nationalparken zu verhalten? – Keine Ahnung, vorsichtig wahrscheinlich, aber was mich jetzt am meisten interessiert: heißt es nicht Nationalparks? Die richtige Antwort lautet jedenfalls: Befahrensregelungen beachten (örtliche Befahrensverbote, zeitliche Befahrensbeschränkungen, festgesetzte Höchstgeschwindigkeiten und dergleichen).

Mannmannmann! Ich muss mich in Nationalparks oder meinetwegen auch -parken an die Regeln halten! Muss ich überall anders natürlich auch. Ehrlich, so was kann man doch nicht lernen, wie soll man sich so einen Quatsch merken?

Schlimme Themen auch: Lichterführung und Tonsignale. Welche Lichter muss ein manövrierbehindertes Fahrzeug von über fünfzig Metern Länge mit Fahrt durchs Wasser führen, und wie wird angezeigt, an welcher Seite Sie es passieren dürfen? Was für ein Fahrzeug sehen Sie hier? (Merken: Weiß über rot – Lotsenboot; rot über weiß – Fischerscheiß.) Welche Lichter müssen Sie führen, wenn Sie die vorgeschriebenen Lichter nicht führen können? (Hä?) Was bedeuten ein langer und drei kurze Signaltöne? Ein langer und zwei kurze? Nur zwei kurze? Was zeigt diese Tonne an und wie müssen Sie daran vorbeifahren? Insgesamt sind es 342 Fragen, dazu die Navigationsaufgaben.

Am Tag vor der Prüfung gegen zwölf Uhr mittags klingelt es an der Tür. Frank ist da, hat Kuchen mitgebracht und wollte mal fragen, wie weit ich bin. Nicht weit, sage ich, oder um ehrlich zu sein, ich habe gestern erst angefangen und weiß noch nicht, wie das gehen soll. Und Du? – Jo, sagt Frank, so ähnlich. Da dachte ich, lass uns erst mal Kuchen essen.

Dabei gucken wir schon mal in die Prüfungsbögen. Und dann wird uns ganz anders. Wir stellen einander Fragen, lösen gemeinsam die Navigationsaufgaben, kriegen zusehends einen Knall und werden immer alberner. Wann gilt ein Fahrzeug als überholendes Fahrzeug? – Äh, das merkt man doch? Falsch. Wenn es sich dem anderen Fahrzeug von mindestens 22,5° achterlicher als querab nähert. Bitte? Das muss man erst mal verstehen. Und sich dann merken. Und nicht vergessen dazuzusagen, dass man sich, wenn man es nicht weiß, im Zweifel als überholend anzusehen hat. Wir kichern. Wann besteht die Gefahr einer Kollision? – Äh, das merkt man doch? Falsch. Wenn sich der Abstand zum anderen Fahrzeug verringert und der Kompass keinerlei Kursänderung anzeigt. Frank glaubt mir nicht, dass das da steht. Mehr Gelächter. Als Frank Feuerlöschmittel aufzählen soll und statt einer Löschdecke eine Heizdecke nennt, können wir nur noch hysterisch japsen und kriegen uns gar nicht mehr ein. Wird auch nicht besser, als ich das Wort „ausweichpflichtig“ nicht mehr herausbringe, sondern nur noch „ausweispflichtig“ sagen kann.

Gegen Abend kommt Franks Frau, mein Mann kocht uns etwas. Wir lernen weiter. Die beiden wissen nicht, ob sie mehr den Kopf schütteln oder uns auslachen sollen. Nachts um halb zwölf machen wir zum Abschluss noch ein paar Knoten, und dann ist Schluss, nach fast zwölf Stunden Lernen. Ab ins Bett, dass wir für die Prüfung ausgeschlafen sind.

Mag sein, dass ich einen Knall habe. Aber sobald ich auf dem Wasser bin, weiß ich, es ist nicht nur ein Knall. Ich habe mich verknallt.

Isabel Bogdan

Isabel Bogdan übersetzt seit 10 Jahren Literatur aus dem Englischen (u.a. Jonathan Safran Foer, Miranda July, ZZ Packer, Tamar Yellin, Andrew Taylor, Sophie Kinsella, Alice Sebold, Janet Evanovich). Sie lebt und arbeitet in Hamburg. Zum Blog von Isabel Bogdan.