Hermann Marwede
– Isabel Bogdan begibt sich für CULTurMAG ins Handgemenge mit den Dingen und probiert skurrile, abseitige und ganz normale Sachen aus. Diesmal war sie Schiffbrüchige retten. Also: potenziell…
Wir waren eine knappe Woche auf Helgoland, meine Kollegin Maike und ich, zum Arbeiten. Wir hatten beide reichlich zu tun, und etwas anderes als Arbeiten kann man auf Helgoland auch nicht machen, eine Woche lang, so viel hat die Insel gar nicht zu bieten. Außer dass die ganze Zeit allerherrlichstes Wetter war, und wenn vor dem Fenster das Meer so blau glitzert und der Himmel so blau schimmert und überhaupt in alle Richtungen alles blau ist, dann muss man natürlich raus und in die Sonne und noch ein bisschen näher ans Wasser und Robben gucken und Vögel gucken und die naturkundliche Führung mitmachen und Trampolin springen und über Mauern klettern, auf denen „Betreten verboten“ steht, und sich von der Gischt nassspritzen lassen und spazieren gehen und eine Bunkerführung machen und ins Aquarium gehen und … äh, genau: arbeiten. Ja, doch, wir haben wirklich gearbeitet! Und gar nicht mal so wenig geschafft. Gearbeitet und gleichzeitig erholt, super Aktion, das machen wir mal wieder.
Zum krönenden Abschluss dürfen wir auf der Heimfahrt Sachen machen, die man sonst nicht darf. Normalerweise mache ich ja Sachen, die jeder machen kann, diesmal haben wir ein echtes Journalistenprivileg: wir fahren mit dem Seenotrettungskreuzer Hermann Marwede von Helgoland nach Cuxhaven zurück. Obwohl wir gar nicht schiffbrüchig sind!
Sonst ist auch niemand schiffbrüchig. Es ist nämlich spiegelglatte See, Wasser und Himmel schimmern genauso blau wie in den letzten Tagen auch schon. Wir sind von all dem Blau schon ganz dumm vor Glück, da ist es uns sogar egal, dass die Hermann Marwede morgens um sieben schon losfährt. Und zwar routinemäßig einmal in der Woche. Das Schiff (der größte deutsche Rettungskreuzer, 46 Meter lang) ist auf Helgoland stationiert, und es arbeiten acht Männer darauf, jeweils für zwei Wochen. Dann haben sie zwei Wochen frei. Jeden Dienstag fahren sie nach Cuxhaven, dort wird ein Teil der Mannschaft ausgetauscht, außerdem wird eingekauft. Trinkwasser zum Beispiel, denn das kostet auf Helgoland das doppelte, weil erst Meerwasser entsalzt werden muss.
Also wecken wir morgens um halb sieben mit unseren Rollkoffern halb Helgoland, gehen zum Hafen und zur Hermann Marwede, wo schon alles abfahrbereit ist. Es ist ein bisschen zu früh für uns, wir können um die Uhrzeit noch nicht richtig denken, geschweige denn sprechen. Die Männer an Bord sind norddeutsche Seeleute; auch nicht gerade große Redner. Alle sagen artig Moin und beschäftigen sich dann mit dem, womit sie eben so beschäftigt sind; Gangway reinholen, Leinen los, Ablegemanöver.
Wir stehen ein bisschen unsicher an Deck und wissen erstmal nicht recht. Wir schauen zurück auf Helgoland und aufs Wasser und murmeln leise Tschüss, alter Felsbrocken. Neben der Düne geht die Sonne auf, am Himmel wird Schwarz zu Blau, es ist wunderschön. Fast könnte man denken, am frühen Aufstehen sei doch nicht alles schlecht, denn so ein Licht gibt es wohl wirklich nur früh morgens.
Dann taucht Tim auf. Ich weiß nicht, ob er sich freiwillig erbarmt, oder ob er den Auftrag hat, sich um uns zu kümmern, jedenfalls ist er sehr nett. Auch die anderen sind durchaus freundlich, aber eben schweigsam. Von Tim erfahren wir, dass an Bord immer einige Festangestellte und von Zeit zu Zeit ein Freiwilliger arbeiten. Tim ist Freiwilliger; eigentlich ist er Feuerwehrmann irgendwo im Ruhrgebiet und kommt aus der Binnenschifffahrt. Jetzt war er eine Woche als Freiwilliger auf der Hermann Marwede.
Was sie denn da eigentlich den ganzen Tag machen, fragen wir. Es ist ja nicht dauernd jemand zu retten. Das Schiff in Schuss halten, ist die Antwort. Putzen, Gerätschaften warten, reparieren, sich selbst fit halten, Manöver und Übungen machen, den Ernstfall proben. Einen echten Ernstfall hat es in seiner Woche allerdings nicht gegeben, niemand hat Schiffbruch erlitten, und auch sonst war nichts. Tim klingt fast ein bisschen enttäuscht, andererseits ist es natürlich gut, wenn nichts passiert. Es kann nur sein, dass die Moral der Mannschaft ein wenig sinkt, wenn zu lange nichts zu tun ist. Aber sobald dann wieder mal alle zusammenarbeiten und funktionieren müssen, ist es wieder gut.
Tim führt uns auf dem Schiff herum. Vierhundert Leute kann die Hermann Marwede an Bord nehmen. Wie bitte? Wo sollen die denn alle hin? Wir gehen in einen Raum mittschiffs, in dem überraschenderweise eine Reihe Fitnessgeräte steht. Wahrscheinlich alle zusammenklapp- und schnellstens irgendwo verstaubar. Und in den Raum sollen vierhundert Leute passen? Naja, sagt Tim, das ist dann schon eng. Ein paar können sogar liegen, an den Wänden entlang sind halbhohe Schränke in einer Breite, dass man eine Trage obendrauf legen kann. Drumherum ist eine kleine Reling, sodass die Verletzten nicht runterfallen. Ich nehme an, dass die Schlafräume der Mannschaft in so einem Fall ebenfalls mitbenutzt werden müssen. Da können wir aber nicht hin, wir bekommen sie nicht zu sehen, denn da liegt ein Kollege und schläft. Er hatte Nachtwache, einer muss ja immer am Funkgerät sitzen, falls ein Notruf kommt.
Neben diesem großen, weitgehend leeren Raum liegt das sogenannte Hospital. Hospital ist ein großes Wort, es handelt sich um ein kleines Zimmer mit einem Behandlungstisch in der Mitte und wieder der Möglichkeit, an den Rändern weitere Verletzte hinzulegen. Ob denn immer ein Arzt an Bord sei, frage ich verwundert. Nein, kein Arzt. Aber die meisten Besatzungsmitglieder sind ausgebildete Rettungssanitäter oder –assistenten. Was sie an Bord am öftesten zu behandeln haben, sind entweder Unterkühlungen, dafür haben sie natürlich reichlich Wärmedecken an Bord, oder Traumata – nämlich dann, wenn beispielsweise jemand in einer Fähre die Treppe runterfällt. Was bei etwas Seegang durchaus vorkommen kann.
Es gehen ja nicht dauernd Schiffe unter. So ein Schiffbruch mit 400 Personen kommt ungefähr überhaupt nicht vor. Wenn mal wirklich ein Schiff in Seenot gerät, dann sind das meistens Privatyachten, deren Besitzer sich selbst über- und das Meer unterschätzt haben. Oder die einen Motorschaden haben. Also, die Yachten jetzt, nicht die Besitzer.
Ansonsten wird die Hermann Marwede auch für Krankentransporte eingesetzt. Beispielsweise wenn auf einem anderen Schiff jemand so krank wird, dass er von Bord geholt werden muss, oder wenn jemand nicht mehr im Helgoländer Krankenhaus behandelt werden kann, sondern aufs Festland gebracht werden muss. Das wird dann als ganz normaler Krankentransport mit der Kasse abgerechnet – etwas teurer als eine Krankenwagenfahrt ist das natürlich schon.
Was mir überhaupt nicht klar war: die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger finanziert sich ausschließlich aus Spenden. Sie verzichtet bewusst auf staatliche Zuwendungen, um sich ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Das finde ich wirklich bemerkenswert, sie finanzieren damit ein Netz von 61 Seenotkreuzern und Seenotrettungsbooten an der deutschen Nord- und Ostseeküste mit ich weiß nicht wieviel Mann Besatzung. Nur durch Spenden! Wenn ich es recht bedenke: das ist nicht nur bemerkens-, sondern bewunders- und unterstützenswert. Die Spendenkontonummern stehen übrigens hier. Mal so als Anregung.
Wir gehen auf die Brücke, die ziemlich weit oben ist, damit man auch bei hohem Seegang noch so weit wie möglich gucken kann. Der Vormann (so wird der Kapitän genannt) und sein Stellvertreter begrüßen uns, aber auch sie sind offenbar keine großen Redner. Sie schauen konzentriert geradeaus aufs Wasser, Tim erklärt uns derweil ein paar technische Einrichtungen. Besonders beeindruckend: das AIS, das Automatic Identification System, das alle Schiffe ab 20 Metern Länge haben müssen. Das sendet Informationen über das jeweilige Schiff aus, und die Schiffe, die gerade in der Nähe sind, empfangen diese Signale. Auf einem Monitor wird dann angezeigt, wo welches Schiff sich gerade befindet, wie groß es ist, wie weit entfernt, wie schnell es fährt, in welche Richtung usw. Wir sehen, dass sich querab von uns die Osaka Express befindet, und dass sie dort ankert. Sehr imposant. Außerdem wird sie so schön von der Sonne angestrahlt.
Draußen ist immer noch so tolles Licht. Es ist jetzt richtig hell, das Dunkelblau ist zu Knallblau geworden, die Morgensonne bescheint die Schiffe, die wie an einer Schnur aufgereiht von der Elbe Richtung Verkehrstrennungsgebiet fahren oder umgekehrt.
Zwischendrin, abseits der Reihe großer Frachtschiffe, ein paar kleine Fischkutter. Wir gehen wieder raus, an Deck, und betrachten die riesigen Löschkanonen. Wenn ein Schiff brennt, können sie es mit bis zu 60.000 Litern Wasser pro Minute löschen. Sechzigtausend Liter pro Minute! Vollkommen irre.
Hinten auf der Hermann Marwede liegt das Tochterboot Verena. Es ist knapp 10 Meter lang und kann bei Bedarf schnell zu Wasser gelassen werden, um beispielsweise im Wasser treibende Personen an Bord zu nehmen. Notfalls können die auch direkt aus dem Wasser in die Hermann Marwede geborgen werden, es gibt hinten zwei große Türen, die auf Wasserhöhe hinausgehen, sodass man dort schnell Menschen aufnehmen kann. Ich schlage vor, Maike und ich könnten ins Wasser springen, damit hier mal ein bisschen Action ist und sie uns schön wieder rausfischen können, aber der Vorschlag kommt irgendwie nicht so richtig gut an.
Kurz bevor wir in Cuxhaven einlaufen, tauen die schweigsamen Seemänner dann doch noch ein bisschen auf und fragen nach, wer wir eigentlich sind und was wir schreiben. Stellt sich raus: lauter nette Menschen. Und wer erstens morgens nicht spricht und zweitens zur See fährt, hat sowieso meine Sympathie. Nach etwas mehr als zwei Stunden sind wir in Cuxhaven – viel zu schnell! Und fast ein bisschen zu undramatisch. Was für eine herrliche Überfahrt, was für ein Licht, was für ein Blau! Wir hätten noch Stunden an Deck stehen und ins Blau gucken und hach seufzen können. Am liebsten würden wir einfach wieder mit zurückfahren. Geht aber leider nicht.
Zur Erinnerung: die Spendenkontonummern finden sich hier. So eine kleine Überweisung geht ganz fix. Ehrlich, wenn man da draußen in Not gerät, dann ist das kein Spaß. Dann ist man heilfroh, wenn die Hermann Marwede oder ein anderes vertrauenerweckendes Schiff kommt und einen birgt. Übrigens gibt es auch hübsche Merchandising-Artikel, ich hätte zum Beispiel gern die Seenotrettermütze. So eine Dienstmütze kann man immer brauchen. Wobei es an Bord keine Frauen gibt, und Tim meint, das sei auch richtig so. Meine Reflexe springen kurz an, da sagt er: Oder kannst Du mich tragen? – Ähm, nein. – Siehst Du, ich Dich schon. Gut zu wissen.
Isabel Bogdan
Fotos: Maike Engelhardt
Isabel Bogdan übersetzt seit 10 Jahren Literatur aus dem Englischen (u. a. Jonathan Safran Foer, Miranda July, ZZ Packer, Tamar Yellin, Andrew Taylor). Sie lebt und arbeitet in Hamburg. Zum Blog von Isabel Bogdan.