Geschrieben am 11. September 2013 von für Kolumnen und Themen, Litmag, Sachen machen

Sachen machen: Alsterlauf

bogdanZehn Kilometer!

Isabel Bogdan begibt sich für CULTurMAG ins Handgemenge mit den Dingen und probiert skurrile, abseitige und ganz normale Sachen aus. Diesmal war sie laufen.

Blogeintrag vom 8. August: „In einem Augenblick geistiger Umnachtung – oder vielleicht auch in einem Augenblick besonderer Klarheit und Weitsicht, wer weiß das schon immer so genau, und vielleicht ist es auch das gleiche – habe ich mich zum Alsterlauf angemeldet. Der findet am 8. September statt und geht über 10 km. ZEHN! KILOMETER! Das ist ganz schön krass. So weit bin ich noch nie gelaufen. Im Moment laufe ich eine knappe Dreiviertelstunde.
Vor vier Tagen meldete die Smartphone-App Runtastic, ich sei in 43 Minuten 6,89 km gelaufen. Es war sehr heiß, ich bin ein paarmal ein paar Schritte gegangen, um wieder zu Atem zu kommen. Heute war es gefühlte 10°C kühler und lief richtig gut. Ich bin, vielleicht überhaupt zum allerersten Mal, die ganze Strecke durchgelaufen, ohne eine einzige Gehpause, ohne Stretchingpause, und bin im Park noch eine zusätzliche Runde gelaufen. Das doofe Runtastic meldet, es seien zwanzig Meter mehr gewesen als letztes Mal, 6,91 km, was vermutlich daran liegt, dass dauernd das GPS-Signal nicht gefunden wurde (was das Telefon dann lautstark aus meiner Hose raus verkündet. Irgendwann kriege ich noch raus, wie man das abstellt, denn ich möchte nicht, dass meine Hose mit mir spricht, wenn ich laufe). In Wahrheit müsste ich ungefähr einen Kilometer mehr gelaufen sein. Vielleicht hat es auch vor vier Tagen nicht gestimmt, sondern war viel weniger, es stimmt sowieso nie, ich laufe immer dieselbe Strecke, und Runtastic meldet immer andere Zahlen. Jedenfalls habe ich heute also exakt dieselbe Zeit gebraucht, 43 Minuten, für ein bisschen mehr Strecke. Wie lange ich wohl für 10 km bräuchte? Siebzig Minuten? Hui.“

*

Ich laufe den ganzen August über fleißig zweimal die Woche. Einmal die Woche gehe ich noch steppen. Es läuft immer besser, Runtastic meldet irgendwelche Fantastiekilometer; es sind immer mehr, als es der Wahrheit entspräche, denn auf der Karte sind hinterher immer Schlangenlinien und Umwege zu sehen, die ich nicht gelaufen bin, aber trotz dieser zusätzlich reingeschummelten Strecken behauptet auch Runtastic niemals, ich wäre mehr als zehn Kilometer gelaufen. Ich laufe fünfundvierzig Minuten, fünfzig, fünfundfünfzig, achtundfünfzig. Ich laufe kein einziges Mal über eine Stunde, und ich laufe kein einziges Mal zehn Kilometer. Und dann ist der 8. September.

Alster1Das Wetter ist perfekt. Bedeckt, nicht zu warm. Hoffentlich regnet es nicht. Es gibt zwei Startstellen, die Strecken werden dann zusammengeführt. Insgesamt laufen rund 5700 Leute aller Altersklassen mit. Ich starte in der Steinstraße und in der Altersklasse „Seniorin W45“. Wie bitte? Hätte ich das gewusst, hätte ich mich doch nicht angemeldet!

Ich bin ein bisschen aufgeregt. Die Startaufstellung geht so, dass man selbst einschätzt, wie lange man wohl brauchen wird, und sich entsprechend positioniert; die schnellen vorne, die langsameren weiter hinten. Am Straßenrand stehen Schilder, angefangen bei „unter 30 Minuten“. Ich werde tollkühn und stelle mich bei 65 Minuten an, statt, wie eigentlich geplant, bei 70. Neben mir steht Klaus aus Bremerhaven, er ist deutlich senioriger als ich, wir unterhalten uns ein bisschen. Ich finde es irgendwie nett, dass die Vornamen auf den Startnummern mit draufstehen. Alle sind ein bisschen aufgeregt, man wartet so rum, hibbelt ein bisschen, und dann ist es plötzlich zehn Uhr und irgendwo ganz vorne, dort, wo die eigentliche Startlinie ist, fällt der Startschuss. Alle jubeln und applaudieren, und ansonsten passiert: nichts. Wir stehen immer noch da, wo wir schon seit einer Weile stehen. Ich sage „bisher finde ich es gar nicht so anstrengend“, und alle lachen, die Stimmung ist freudig erregt. Dann kommt Bewegung in die Leute vor uns, wir gehen zwei Schritte, laufen zwei, dann stehen wir wieder.

Zusammen mit den Startunterlagen bekommt man einen Chip, den man sich am Schuh befestigt und der genau misst, wann man über die Start- und die Ziellinie läuft. Mir ist die Zeit ja einigermaßen egal, ich möchte es einfach nur schaffen. Mein sportlicher Ehrgeiz ist nicht ganz so ausgeprägt wie der anderer Leute, viele haben noch eine Stoppuhr am Handgelenk und drücken drauf, als sie über die Startlinie laufen.

Ich laufe die ersten hundert Meter neben Klaus her. Ich glaube, er wartet ein bisschen auf mich, ich finde den Anfang meistens am schwersten, immer denke ich nach hundert Metern, ich kann nicht mehr, und dann muss ich mir sagen, dass das natürlich Quatsch ist, dass ich sehr wohl noch kann und es gleich besser wird. Klaus scheint kurz zu zögern, ob er auf mich warten soll und entscheidet sich dagegen, was mir recht ist. Nichts gegen Klaus, er ist nett, aber ich laufe lieber allein und in meinem Tempo. Wenn ich spreche, komme ich sowieso sofort aus dem Atemrhythmus, das ist keine gute Idee. Wir trennen uns schon am Glockengießerwall. An der Ecke, wo es unter der Bahn hindurch Richtung Alster geht, stehen Trommler. Das ist schön, es macht Spaß, es beschwingt. Hach. Ist das der Hammer? Ich laufe beim Alsterlauf mit! Zehn Kilometer! Wie toll! Na gut, ich bin auch gerade erst losgelaufen. Schaumermal.

An der Alster kommt die Sonne raus, es wird ganz schön warm, und ich bin schon verblüffend kaputt. Das kann ja wohl nicht wahr sein, es sollte doch jeder Kilometer ausgeschildert sein, haben wir wirklich noch nicht mal den ersten geschafft? Ich laufe noch langsamer als sowieso schon und werde dauernd überholt. Da sehe ich das Schild „km 2“. Heißt das, dass wir zwei Kilometer geschafft haben oder dass der zweite Kilometer hier anfängt, wir also erst einen haben? Kann nicht sein. Ich muss schon zwei Kilometer gelaufen sein, es geht ja schon fast Richtung Literaturhaus.

Am Straßenrand steht eine schon etwas ältere Dame, sie ruft: Ihr macht das super! Ihr seht toll aus! Das schafft Ihr locker! Ich glaube, sie ruft das niemand bestimmtem zu, sondern einfach allen, das ist wirklich reizend, und ich freue mich und laufe gleich ein bisschen leichter.

Ich überhole ein paar Leute und werde überholt, überholt, überholt. Es kann doch schon bald niemand mehr hinter mir sein, oder? Wann kommt denn endlich das nächste Kilometerschild, ich muss doch schon wieder mindestens eins verpasst haben? Irgendwo in der Nähe der Krugkoppelbrücke sehe ich die fünf Kilometer, das wird ja hinkommen, es dürfte ungefähr die Hälfte sein. Und hey: es läuft gut. Ich bin nicht irre schnell, aber es geht mir gut, ich laufe locker weiter, denke an alles mögliche andere als daran, ob ich noch kann und ob mir etwas wehtut. Am Straßenrand steht wieder die Dame, die allen zuruft, wir sähen super aus und würden das total toll machen, und ich freue mich.

Alles ist prima, bis kurz hinter Kilometer sieben, da falle ich in ein Loch. Wahrscheinlich ist das ungefähr die Strecke, die ich sonst laufe. Ein älterer Herr überholt mich, er telefoniert beim Laufen und sagt gerade in sein Telefon, er sei als letzter gestartet, also wirklich als aller-allerletzter, niemand mehr hinter ihm, na ja, und jetzt überhole er eben alle. Am Telefon! Blödmann. Soll mich doch nicht so fertigmachen, ich könnte gerade gar nicht sprechen und erst recht niemanden überholen.

Vor ein paar Tagen hatte mein Freund Julius Geburtstag, er ist sechs geworden, und ich habe ihm einen Abenteuergürtel geschenkt. Das ist ein Gürtel, an dem man Taschenmesser, Taschenlampe, Trillerpfeife, Trinkflasche und all diese wichtigen Utensilien befestigen kann, die ein kleiner Junge so braucht, wenn er Abenteuer erleben möchte. Einige Läufer haben auch einen Abenteuergürtel umgeschnallt, mit kleinen Trinkfläschchen drin, ich fand das albern, aber jetzt bin ich doch ein bisschen neidisch. Einen Schluck trinken, das wär’s jetzt.

Es wird immer mühsamer, ich spiele mit dem Gedanken, ein Stückchen zu gehen, aber nein, das kann ja wohl nicht, ich werde das doch wohl schaffen. Vielleicht bin ich zu schnell geworden, ich laufe langsamer. Und noch langsamer. Und schleppe mich so dahin. Mir fällt ein Tweet von Raúl Krauthausen ein, der Glasknochen hat und im Rollstuhl sitzt:

Ich würde durchaus nicht im Rollstuhl sitzen wollen, ich laufe gern, ehrlich. Aber dass es scheißanstrengend ist, das stimmt schon. Noch ein Schritt, noch ein Schritt, noch bis zu dem Baum. Boah, ist das anstrengend. Ob ich doch ein bisschen gehe?

Alsterlauf (Bild von Guido)Da sehe ich am Straßenrand jemanden winken. Claudia und Guido sind da! Das hatten sie angekündigt, aber ich freue mich trotzdem verblüffend heftig. Guido hat die Kamera im Anschlag, Claudia lacht und winkt mir zu, ich laufe einen Schlenker, um an ihre Straßenseite zu kommen, und da drückt Claudia mir tatsächlich zwei kleine Apfelstückchen in die Hand. Ich freue mich geradezu unangemessen über diese Geste; hier bin ich, laufe in der schönsten Stadt der Welt zehn Kilometer um die Alster, und ich habe Freunde, die am Straßenrand stehen und mir Apfelstückchen in die Hand drücken. Wahrscheinlich habe ich schon eine Überdosis Endorphine und Adrenalin im Blut, dass ich so gerührt bin. Ich beiße ein Stückchen Apfel ab und stelle fest, dass das eine ganz schlechte Idee ist, Kauen und Schlucken bringt mich aus dem Atemrhythmus, aber die Saftigkeit des Apfels tut gut. Ich laufe mit dem halben Apfelstückchen in der einen Hand und dem ganzen Apfelstückchen in der anderen Hand weiter, und alles ist gut. Ich kann nicht mehr ist nur was im Kopf, und jetzt ist es weg. Jetzt habe ich Äpfelchen.

Als ich um die Alster herum bin, habe ich schon wieder eine Reihe von Leuten überholt und bin von ebenso vielen überholt worden. Ich laufe über die Kennedybrücke, auf der die Dame steht und uns sagt, sie sei total stolz auf uns, und jetzt sei es nicht mehr weit, und wir würden das super machen, mümmle dabei in sehr winzigen Bissen das eine Apfelstückchen auf, dann höre ich wieder die Trommler am Glockengießerwall, Ecke Ballindamm, und da sehe ich auch schon das Ziel – aber erstmal müssen wir noch den Wall hoch und über die Wallfahrt rüber auf die andere Seite.

Alster 2Dort oben steht jemand, checkt die Startnummern und sagt die Namen durch, aber natürlich nicht alle; ich warte, ob ich meinen Namen höre, kommt aber nicht. Dann auf der anderen Seite den Wall wieder runter und um die Kurve, und da ist sie, die Zielgerade, und auf einmal renne ich los, wer war das, die vorhin nicht mehr konnte, wieso denn nicht, es ist doch alles gut, und oben über dem Zieleinlauf steht 11:09 und irgendwelche Sekunden, ich lege einen veritablen Endspurt hin, um es unter einer Stunde und zehn Minuten zu schaffen. Keine Ahnung, ob es hinhaut, ich renne einfach, ich bin zehn Kilometer gelaufen und komme mit einem Apfelstückchen in der Hand ins Ziel. Direkt hinter dem Ziel steht der Mann und strahlt mich an und gratuliert und fotografiert.

Ich bekomme eine Medaille und eine Rose und Getränke vom Sponsor und Komplimente vom Mann und freue mich wie verrückt.

Hinterher stelle ich fest: ich habe natürlich gar nicht eine Stunde und zehn Minuten gebraucht, denn was über dem Ziel steht, ist ja die Zeit ab dem Startschuss. Ich bin aber erst drei Minuten später gestartet, meine offizielle Zeit ist eine Stunde und sieben Minuten. Ist das zu fassen? Ich bin in einer Stunde und sieben Minuten zehn Kilometer gelaufen. Und ich bin total stolz auf mich. Vielleicht sind zehn Kilometer, objektiv betrachtet, nicht unfassbar beeindruckend, und meine Zeit ist es auch nicht. Der schnellste Läufer war nach 28 Minuten im Ziel, aber der ist auch nur etwas mehr als halb so alt wie ich, dann kann er auch mehr als doppelt so schnell rennen. Ich bin jedenfalls stolz wie Oskar und will nächstes Jahr gleich wieder. Wenn ich richtig viel trainiere, ob ich es in weniger als einer Stunde schaffen könnte?

Alster 4

Isabel Bogdan

Isabel Bogdan übersetzt seit 10 Jahren Literatur aus dem Englischen (u. a. Jonathan Safran Foer, Miranda July, ZZ Packer, Tamar Yellin, Andrew Taylor). Sie lebt und arbeitet in Hamburg. Zum Blog von Isabel Bogdan. „Sachen machen“ erschien als Buch im Rowohlt Verlag. Fotos: Privat.

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