„Man reist immer mit Toten im Gepäck …“
Der Reisende, der das behauptet, ist Mathias und sein schweres Gepäckstück ist Wladimir, „Wlado“, bzw. dessen Gespenst. Nach Jeannes Anruf reist er ein zweites Mal nach Russland. Schon beim ersten Mal hatte ein Telefongespräch mit seiner Liebe den Impuls gegeben – und die Tatsache, dass er gleich darauf auf ein Buch über Russland stößt und es direkt zu lesen beginnt. Und „diese Reise war fantastisch … voller herrlicher Alkoholsorten und Wehmut“. Alkohol, Drogen und fiebrige Leidenschaft prägen später die gemeinsame Zeit des Dreiecks Mathias, Jeanne, Wladimir.
Letzten Endes geht jeder mit Schmerz auf seine eigene Weise um. Jeanne lässt sich Haken in den Rücken bohren, an denen sie sich aufhängen lässt, Matthias besteigt in Moskau den Zug nach Nowosibirsk, um Wladimirs Gespenst in sein entlegenes Heimatdorf zu begleite. Über drei Tage dauert die Fahrt, während der Mathias erzählt und den Leser zum Zuhörer macht – der Geschichten über und von Wolodja, der Zwiegespräche mit ihm oder dessen Gespenst („Wir haben nie darüber gesprochen“) und den Geständnissen („ich suchte die Gewalt, die meinen Worten fehlte, Wlad, in unserer maßlosen Freundschaft … in der Leidenschaft für Jeanne, die in deine Arme floh, im schönen Schmerz, sie in deine Armen zu sehen, in meinem offenbaren Fehlen von Eifersucht, in diesem freudigen Trost, dass du es warst, den sie in den Armen hielt“).
So fiebrig der Rausch der Dreiecksbeziehung, so schwer die Wehmut, in die der Zug Erzähler und Zuhörer im Rhythmus der Räder rüttelt. Dabei inszeniert Énard seinen kurzen, aber dichten Roman ein bisschen wie ein Kammerspiel in dem begrenzten Raum des Zugabteils und vor der Kulisse der russischen Landschaft – „das Weiß der Birken, die Tümpel, die Teiche, die Ströme russischen Lebens“ ‑, in dem die einzelnen Stationen die Stichworte geben für Geschichten und russische (Literatur-) Geschichte.
Etwas benommen, vielleicht auch widerwillig mag der eine oder andere Leser den kleinen großen Roman verlassen, verblüfft über die Fülle von (Sprach-)Bildern, dem Spiel mit Worten und Assoziationen auf diesen gerade mal etwas über hundert Seiten. (Mathias Énard erhielt für seinen Roman „Kompass“ den Leipziger Buchpreis 2017.)
Beate Paul
Beate Paul ist Mitglied bei 42er Autoren e.V. und arbeitet als Lektorin in einem Fachverlag. bepado1@web.de