Geschrieben am 27. Februar 2013 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Wolfram Schüttes Petits riens (II): Schirrmacher, Sprachreinigung, Javier Marias

Wolfram Schütte über den neuesten alarmistischen Piratenstreich des Frank Schirrmacher und die Reaktion darauf von Joachim Rohloff im Merkur; die Sprachreinigung am historischen Sprachleib bei deutschen Kinderbüchern – und über den bekannten spanischen Schriftsteller Javier Marias, der Lesern seiner seit zehn Jahren in der Sonntagausgabe von El Pais erscheinenden Kolumne die „rhetorische Frage“ vorgelegt hat, ob er noch weiterhin seine Kolumne schreiben solle.

Ego von Frank SchirrmacherAngstattacke

Ob der ein- & ausfallsreiche FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher mit seinen jeweils alarmistischen Büchern recht hat & ob er als Journalist, dem kein helfender Lektor beim Blessing-Verlag zur Seite steht (um wenigstens die größten Böcke, die in seiner Prosa grasen, vorweg abzuschießen), den Anforderungen deutscher Rechtschreibung & Grammatik nachkommt: Der fleißige & findige Autor scheint bei allen seinen journalistischen Piratenstreichen von einem gemeinsamen, grundlegenden Motiv getrieben zu werden. Nicht der Eitelkeit & der Lust an der eigenen Rolle als führender Feuilletonist des Landes: das gewiss auch.

Aber ist es nicht das (Selbst-)Erkenntnisinteresse seiner Generation, Klasse & Profession, das ihn bewegt? Sieht sich jemand wie er, der sehr jung & sehr exponiert „auf den Höhen“ der bürgerlichen Kultur angekommen war & ist, nicht in jeder Hinsicht einer Zukunft gegenüber, der alles Rosige einer Fortsetzung, sprich: der konservativen Lebensweise, allüberall abhanden zu kommen scheint? Sind seine essayistischen Alarmrufe nicht unausgesprochene Warnsignale persönlich erfahrener oder imaginierten Angstattacken, die ihm nahe legen, Menetekels an den Wänden „Babylons“ abzulesen & sie handlich zugerichtet als seine zusammenaddierte Summa zu „verkaufen“? Liegt der Schirrmacher’schen Emphase nicht der Angsteindruck zugrunde, dass die eigene bürgerliche Klasse ihre intellektuellen, gesellschaftlichen Ansprüche & Utopien „verrät“? Dass sich das Bürgertum „proletarisiert“?

Und richtet sich die kollegiale Beurteilung von Schirrmachers Kassandrarufen mit Sachbüchern, die ja wechselnd fokussierte & lokalisierte Verschwörungstheorien ausbreiten, nicht eher nach deren eigenen ideologischen Dispositionen, statt nach der Qualität, Seriosität & Transparenz seiner zusammengetragenen Argumente & Schlussfolgerungen?

Die prüft ohnehin kaum einer nach, geschweige denn, dass er sie überschaute oder beurteilen könnte. Denn der FAZ-Herausgeber dilettiert ja auf dem von ihm durchpflügten jeweils „weiten Feld“ genauso wie es seine Rezensenten tun müssten, wenn sie ihm widersprechend auf die Schliche kommen wollten. Der von ihm erkennbar prononcierte Wissensvorsprung durch seine selektive Sammlertätigkeit ist für Kreti & Pleti einschüchternd genug, um ihn ungeschoren zu lassen – bis sich jemand die Mühe macht, wie jetzt Joachim Rohloff im Merkur, der dem allseits bewunderten Bestsellerautor akribisch die vielfache Verletzung philologischer, journalistischer & intellektueller „Sorgfaltspflichten“ am Beispiel seines vorletzten Buchs nachweist & vorrechnet. Rohloff trifft damit nicht nur Schirrmacher, sondern auch alle seine journalistischen „Jubelperser“, was einer doppelten Desavouierung der Branche gleichkommt.

Fraglich bleibt aber, ob Rohloffs märchenhafter Ausruf: „Der Kaiser ist aber nackt!“ durchdringt; oder ob Schirrmachers jüngste These einer allgemeinen menschlichen Verhaltens-Mutation zum virulenten Egoisten & amoralischen homo oeconomicus nicht auch zutrifft, ohne dass seine abenteuerlichen Herleitungen mit der Spieltheorie als gesellschaftlicher Praxis & dem mathematischen Algorithmus des elektronischen Zeitalters nicht schlüssig zutrifft.

Mir jedenfalls reichen die heutigen gesellschaftlichen Naherfahrungen mit menschlichen Verhaltensweisen & deren nachhaltige Durchökonomisierung ebenso wie die alltägliche & allgemeine Chronik der laufenden Betrugsereignisse von der Deutschen Bank bis zu Hypo-Vereinsbank, um die Schirrmacher These als längst herrschende Praxis in unserem alltäglichen Leben ausmachen zu können. Prüfe sich doch einmal jeder, ob er frei davon & kein homo oeconomicus ist – und wenn (falls): warum, wobei, wodurch?

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Europa im Blick

Wäre es nicht langsam an der Zeit, immer mal wieder den Blick über die deutschen Landesgrenzen zu werfen & auf die anderen europäischen Gesellschaften & Sprachfamilien zu blicken, wenn man sprachpolizeiliche Eingriffe in den heute obsolet gewordenen Sprachbestand erwägt? Schließlich wollen wir ja langfristig eine Einheit (in der Vielfalt) werden, ein Staatsgebilde namens (Vereinigte Staaten von) Europa.

Das wäre auch gerade jetzt von Sinn & womöglich sogar von Nutzen, wo man nun – wie schon früher, als man es für einzig akzeptabel erklärte, statt von „Zigeunern“ nur noch von „Sinti & Roma“ zu sprechen – derzeit heftig darüber debattiert, ob man aus der deutschen Übersetzung des schwedischen Kinderbuchs „ Pippi Langstrumpf“ das Wort „Neger“ entfernen müsse, weil es diskriminierend ist & heute (zumindest in den USA) stattdessen „Black“ oder „Afro-American“ gebräuchlich ist.

Da würde man doch gerne wissen, was die Schweden mit dem Original des berühmten Buchs von Astrid Lindgren heute anstellen & was die Briten, Franzosen oder Italiener mit dieser deutschen cause célèbre anfangen.

Zumindest ist mir nicht bekannt, dass in diesen Sprachen deren Entsprechungen zu dem deutschen Wort „Zigeuner“ so getilgt wurde, wie es im Deutschen geschehen ist. Was ja gewiss nicht bedeutet, dass diese Sprachfamilien & Völker heute rassistischer bzw. diskriminierender sind als die Deutschen.

Die haben allerdings neben den Juden auch die Zigeuner einmal vom Erdboden vertilgen wollen; und hätte ihre „Wehrmacht“ gesiegt, hätten sie sich noch andere zu ihrer industriellen Tötung vorgenommen.

Aber dieser historische Akt kann ja nicht die Rechtfertigung sein, das Wort „Zigeuner“ aus dem heutigen Deutsch zu tilgen, während z. B. ohne Zweifel Franzosen weiterhin von „tzigane“ und Italiener von „gitano“ oder „zingaro“ sprechen & schreiben können, ohne in den Verdacht des fortgesetzten Rassismus oder der sprachlichen Stigmatisierung zu geraten.

Um auf Lindgrens „Neger“ zurückzukommen: Eine Sprachreinigung am historischen Sprachleib ist & bleibt eine Verstümmelung des Originals & seiner Geschichte. Selbstverständlich kann oder besser sollte in dem Buch – sei’s als Fußnote, sei’s als Anmerkung – auf das heute Prekäre des Wortes und seiner Konnotation hingewiesen werden. Es ist ja aber auch noch niemand auf die Idee gekommen, den Mohr Monostatos in Mozarts „Zauberflöte“ weiß zu waschen oder zu verlangen, er dürfe nur von einem schwarzen Sänger gesungen werden – statt von einem auf schwarz geschminkten weißen.

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Weitermachen

Einem Summery in der internationalen Magazinrundschau von „Perlentaucher“ entnehme ich, dass der bekannte spanische Schriftsteller Javier Marias den Lesern seiner seit zehn Jahren in der Sonntagausgabe von El Pais erscheinenden Kolumne die „rhetorische Frage“ vorgelegt hat, ob er noch weiterhin seine Kolumne schreiben solle. Nicht weil er seines Schreibens müde wäre oder daran zweifele, ob die Leser immer noch an seinen Kommentaren Freude oder wenigstens Interesse hätten. Nein, es sei das duzfreundliche, schleimige Verhalten eines spanischen Politikers ihm gegenüber, den er in diesen wöchentlichen Kolumnen schon mehrfach auf das Heftigste angegriffen & mit seinen Worten so niedergemacht hatte, dass der Autor kein Wort mehr von dem politischen Opfer seiner Kritik erwartet hätte.

Er fragt sich, ob die Politiker (wie dieser) „überhaupt mitbekommen“, was man über sie öffentlich publiziert; stecken sie es als „gute Verlierer weg“; ist es ihnen egal, haben sie ein dickes Fell oder hoffte der von Javier Marias so oft & heftig Attackierte, künftig besser behandelt zu werden? „Wenn noch nicht einmal die von mir »Beschädigten«“, fragt sich Javier Marias sowohl verwirrt als auch resigniert, „ mir ihre »Beschädigung« übel nehmen“, soll er dann wirklich seine Politiker-Kritik noch fortsetzen?

Soll er, selbst wenn der Betroffene es weder wahrnimmt noch darauf reagiert. „Einer muss wachen“, sagt Kafka; und wäre es scheinbar zweck- & sichtlich folgenlos, was der spanische Autor hier von einer iberischen Form des Kohl’schen „Aussitzens“ berichtet, so sollte er mit seinen Widerworten doch fortfahren, mit denen er ja wohl immerhin seinen weniger eloquenten Lesern zum Ausdruck ihres gemeinsamen Missfallens verhilft. Nicht resignieren. Man muss sich Sisyphos zwar nicht gleich, wie Camus behauptete, „als glücklichen Menschen vorstellen“, aber als unbeugsamen denn doch.

Wolfram Schütte

 Frank Schirrmacher: Ego. Das Spiel des Lebens. Blessing Verlag 2013. 352 Seiten. 19,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.

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