Geschrieben am 9. November 2009 von für Litmag, Neuer Wort Schatz II

Neuer Wort Schatz II (8) : Bärbel Klässner

geschichte

Bärbel Klässner
Worte meine ersten lieben

Vorgestellt von Dietmar Jacobsen

Worte meine ersten lieben

So begann ich die sprache mit meiner spucke zu zersetzen darin
lag der geschmack staubiger märchen und der schweiß der
magdeburger zeitungsdrucker die druckten die volksstimme und
hatten noch echte lettern aus blei sie konnten nichts für die
macht der transparente die ich sah und dann sah ich das lächer-
liche im großen und ganzen und die schönheit im schaufenster
von pfund & gress meinem lieblingsladen schul und zeichen-
bedarf hier begann die heimat und ging die halberstädter
chaussee hinunter auf der geraden seite und auf der ungeraden
wieder herauf später wollte ich die sprache durch mich selbst
ersetzen das musste misslingen die sprache ersetzte mich durch
nichts ungesprochen blieben die nächte augenleer totenstumm
das blanke entsetzen als ich das westdeutsche lernen musste als
wär das meine zweite mutter natur verschwand der schweiß
und bleigeruch soweit meine geschichte mehr nicht

Ein Leben – verteilt auf 15 Zeilen. Nicht endend mit der letzten, es fehlt der Punkt. Und Raum für Zukünftiges bleibt noch genug, um festzuhalten, was nach dem lakonischen „mehr nicht“, mit dem der Text endet, noch kommen mag.

Allein die Pfeiler, auf denen das beschriebene Dasein gründet, scheinen festzustehen. Bärbel Klässners Lebensthema ist die Sprache. So wie vorgefunden ist sie nicht zu gebrauchen. Die Sprecherin muss sie sich erst anverwandeln. Sie geschmeidig machen, einspeicheln, „mit … spucke zersetzen“. Ein Akt der Einverleibung.

So reduziert und trocken jedenfalls, wie sie von der das Ich umgebenden Welt zur Verfügung gestellt wird, taugt sie nicht zur Beschreibung dessen, was wirklich erlebt, erahnt, ersehnt, erfühlt, erlitten wird. Und wo sie sich spreizt auf Transparenten, versperrt sie den Blick ins eigene Innere, ist nur noch schillernde Oberfläche.

Später ist die Rede von dem Versuch, „sprache durch mich selbst“ zu ersetzen. Eine Absolutsetzung des Ich, die schnell in Sackgassen führt, wo einem aus allen Spiegeln nurmehr das eigene Gesicht entgegensieht. Ausblendung der Welt, die identisch wird mit der Person, die in ihr lebt. Wo die eine ihre Grenzen hat, da hat sie auch die andere. Allein, bei einer derartig eingeschränkten Wahrnehmung stehenzubleiben wäre gefährlich.

Tief atmet man denn auch auf, wenn das Ich des Textes die Klippen der Egozentrik und Enge hinter sich lässt und sich öffnet. Damit wird der Blick plötzlich frei auf Geschichten und „geschichte“, auf historische Ereignisse und ihren Einfluss auf die eigene Biographie. Klässner, Jahrgang 1960, verbrachte ihre Kindheit in Magdeburg, studierte in Jena, siedelte dann nach Köln um, kam für knapp zehn Jahre zurück nach Weimar und lebt seit 2004 in Essen. Eine Wanderin zwischen Ost und West, zwischen zwei Welten, sprich: Systemen, die bis heute nicht wirklich zueinander gefunden haben und immer wieder Reibungsflächen bieten.

Vielfältig ist das Sprachecho, das die Vergangenheit der Autorin im Text hinterlassen hat. Da klingen die Magdeburger Jahre an und die allmählich reifende Erkenntnis der Lächerlichkeit jener Parolen, die einmal die Verwirklichung einer welthistorischen Utopie befördern sollten. Da ist der Untergang der DDR und die Wiedervereinigung, die denjenigen, die das „westdeutsche“ zu erlernen hatten im Schweiße ihres Angesichts, mehr abverlangte als den anderen. Und da ist das trotzige Bestehen auf allem, was dieses Leben zu formen einst mithalf – nichts soll vergessen sein, nichts unter den Teppich gekehrt werden.

Worte meine ersten lieben eröffnet Bärbel Klässners aktuellen Gedichtband Der zugang ist gelegt. Alle dort folgenden „gedichte & fließtexte“ sind das Resultat der im Eingangstext beschriebenen Erfahrungen mit der Geschichte, mit sich selbst, mit der Sprache. Unverschlüsselt gibt die Autorin sich preis und berührt den Leser durch ihre Aufrichtigkeit.

Dietmar Jacobsen

Gedichte mit Neugier und Genuss zu lesen – das ist das Ziel der Reihe Neuer Wort Schatz II, die jede Woche einen zeitgenössischen Text vorstellt. Zusammengestellt wird sie von GISELA TRAHMS und DANIEL GRAF.

Zu Neuer Wort Schatz II (9): Uljana Wolf

Zu Neuer Wort Schatz II (7): Timo Berger

Zur ersten Staffel von NWS geht‘s hier


Das Gedicht ist erschienen in:

Bärbel Klässner
Der zugang ist gelegt. gedichte & fließtexte
Erata Literaturverlag
Leipzig 2008