1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne: Michael Zellers SEH-REISE ist zurück! Michael Zeller besitzt einen großen Stapel von Kunstkarten, die er bei seinen Galerie- und Museumsbesuchen angesammelt hat. Jede Woche fischt er eine Karte heraus und hängt sie sich in die Wohnung, wo der Blick immer wieder an ihr hängen bleibt. Was darauf zu sehen ist, welche Beziehung sich zwischen Werk und Autor entwickelt, darüber berichtet Michael Zeller wöchentlich in CULTurMAG. Heute: Die Inneneinrichtung der Nikolaikirche Leipzig von Carl Friedrich Dauthe.
Unterm Paradieshimmel
Fremd war mir zunächst dieser aufgebaute Wald mit seinen pflanzenhaften Auswucherungen oben, dem Stakkato von Säulen und Kapitellen, überbordend verziert. Wo sollte ich das unterbringen? Aber der Raum zog mich auch ungeheuer an. Er war einfach schön! Wo mag diese köstliche Architektur zu Hause sein? Im maurischen Andalusien? Keineswegs! Schönheit kann einem auch in einem protestantischen Kirchenraum im braven Sachsen blühen!
Kein Funke Erinnerung springt mich an, als der eingeübte Zehnerschritt das Bild aus dem Stapel der Kunstpostkarten zu Tage befördert hat. Da muss ich ja blind gewesen sein, damals in Leipzig, wenn dieser Raum keinen Eindruck bei mir hinterlassen hat. Ein Glück, dass ich wenigstens sein Abbild mitgenommen habe. So kann ich nun eine Woche lang nachholen, wofür seinerzeit meine Sinne stumpf geblieben waren.
Neben vielem anderen ist so ein Postkartenberg also auch ein Museum versäumter Augenblicke.
Tag für Tag schärfte sich mein Blick dafür, wie im Innenraum der Leipziger Nikolaikirche ein Stilwandel sich vollzogen hat, so radikal, wie nicht viele seinesgleichen in Deutschland. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts wird auch hier die Epoche des christlichen Mittelalters zu Grabe getragen und eine neue Zeit eingeläutet. Am grellsten hatten die Pariser Fanfaren der Französischen Revolution zum Aufbruch geblasen.
In dieser Phase einer gewaltigen Wende erteilen die Bürger Leipzigs dem Stadtbaumeister den Auftrag, ihre Nikolaikirche im Stil des Neuen auf Vordermann zu bringen. Und Carl Friedrich Dauthe ist auf der Höhe. Er macht ihnen aus der mittelalterlichen Halle einen Bau, der dem veränderten Zeitgeschmack in der Stadt eine Bresche schlägt.
Immerhin: Er reißt das alte Gemäuer nicht einfach ab, er verkleidet es nur. Doch das tut er so geschickt, dass der Bau-Kern unter dem neuen Kleid fast nicht mehr zu erkennen ist. Die tragenden Säulen bekommen einen Mantel in kanneliertem Stuck, in frischer heller Farbgebung. Aus den Kapitellen wachsen Palmwedel heraus, in lichtem Grün, selbst Datteln sind zu sehen. Das orientalische Gezweig überwuchert die drei gotischen Tonnen der Halle und schafft sich damit einen ganz anderen Himmel. Als Garten des Paradieses wollte der Architekt seine Überbauung verstanden wissen. (Dass Dauthe Mitglied der Leipziger Freimaurerloge „Minerva zu den drei Palmen“ war, ist ein passendes Symbol dafür.)
In diesem Paradiesgarten lastet es nicht mehr schwer zwischen den Bögen. Die filigrane Pflanzlichkeit trägt das Gewölbe wie nebenbei (auf deren mittelalterliche Statik ist ja Verlass). Der Kirchenraum öffnet sich nach oben in den üppigen Wald von Palmen und wird dabei von einer aufregend neuen Farbigkeit unterstützt (die auf der Postkarte leider untergeht): die Säulen in Rosé und Weiß wie die Kassetten über dem ehedem gotischen Kreuzgewölbe. Darauf antwortet das zarte Grün der Palmwedel.
Das ist nicht mehr der Himmel, wie ihn das Mittelalter kannte. Ein veränderter Geist spricht daraus auf die Gläubigen unten, die sich in ihrer Kirche zu Gebet und Andacht treffen. Das Christentum ist aufgehellt, es ist bunter geworden, kennt jetzt fröhlichere Farben. Und in diesem Ton strömen von der Orgel, erst nach Dauthes Renovierung eingebaut, dann auch die Choräle herab.
Und so klangen und klingen sie bis heute fort. Der klassizistische Umbau der Nikolaikirche von 1780/90 hat den Zweiten Weltkrieg heil überstanden, im Unterschied zu vielen weiteren prominenten Bauten des Carl Friedrich Dauthe in Leipzig. Unter seinem Paradieshimmel trafen sich in den späten achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts die Bürger, zu einer anderen Wende: um ihrem Staat, der Deutschen Demokratischen Republik, das Lebenslicht auszublasen. Unter diesem utopischen Palmen-Himmel der Leipziger Nikolaikirche haben die Montagspredigten von 1989 nicht fremd geklungen.
Michael Zeller
Nikolaikirche Leipzig. Klassizistische Inneneinrichtung 1784-1797 von Carl Friedrich Dauthe.
Michael Zeller, Schriftsteller mit einem umfangreichen, mehrfach ausgezeichneten literarischen Werk (zuletzt, 2011, Andreas Gryphius-Preis). 2013 sind von ihm erschienen die Gedichte wie es „anfängt : wie es endet” und der Prosaband „ABHAUEN! Protokoll einer Flucht” bei CulturBooks. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.