Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne, 1 Jahr lang: Ab Juni erscheint bei CULTurMAG wöchentlich für ein Jahr Michael Zellers SEH-REISE in zweiundfünfzig Ausfahrten, ein „Tagebuch in Bildern”: Betrachtungen zu Kunst und Leben, von den ägyptischen Pharaonen über die griechisch-römische Antike und das Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart. Heute: Richard Estes: Michigan Avenue with View of the Art Institute. (Alle Folgen hier).
Einundvierzigste Ausfahrt
Die Woche über, die mich die Straßenszene von Chicago begleitete, bei meinen Verrichtungen in der heimischen Küche, konnten meine Augen es kaum fassen, dass sie es dabei (wie der Kopf es ihnen einsagte) mit einem Gemälde zu tun hätten und nicht mit einer Fotografie, so detailgenau ist hier die Wirklichkeit der Topographie ins Bild gesetzt.
Zu sehen ist der Abschnitt der Michigan Avenue, an der sich das Art Institute befindet, eines der großartigsten Kunstmuseen, die ich in Nordamerika kennengelernt habe. Genauso steht es da, wie ich es in Erinnerung habe: Der schwere, breit gelagerte Bau des neunzehnten Jahrhunderts, in antikischer Formensprache, die vorgeschobene Eingangsfront mit Tympanon, Säulen und Arkadenbögen im Erdgeschoß. Direkt dahinter stößt ein Wolkenkratzer silbern in den Himmel, ein streng quadratischer schlanker Block, und drückt das Art Institute vor seinen unteren Etagen an den Boden. Doch der alte Bau hat genug Masse, sich dennoch zu behaupten. Weitere Hochhäuser schließen sich an, sie lenken den Blick auf einen dieser Himmel, die über Chicago leuchten, beflügelt vom Wind des nahen großen Sees. Heute zeigt er eine dichte Wolkenschicht aus Weiß, die ein Stück blauer Tiefe offen lässt, ehe Regenwolken dunkelnd darüber fegen. Ein Tag ohne Sonne.
Unten, am Boden, vor den Gebäuden, die Arterie amerikanischer Großstädte, in Beton gegossen: die breiten Autobahnen, die den meisten Patz für sich beanspruchen. Auf ihnen – sind es drei oder vier Spuren? – die eng geknüpft dahinrollende Kette von Autos, riesigen Formats, für europäische Augen jedenfalls. Gegenüber dem Art Institute, vor einem gläsernen Pavillon, stehen säuberlich aufgereiht ein paar schmucke Limousinen, in Habacht. Sie warten auf ihren Einsatz. NOW LEASING befiehlt die Werbung.
Menschen? Doch, die gibt es wohl auch an diesem eher trüben Tag in Chicago. Genau vier Personen zähle ich, die an einer Fußgängerampel warten, dass sie über das stumpfgraue Betonfeld auf die Seite des Art Institute dürfen. Ob sie da hinein wollen, bezweifle ich. Trotz mehrerer roter Stoffplanen, die von den Laternenmasten herabhängen und mit „The Vatican Collections“ locken. (Dass sie sich die Lufthoheit mit einem flatternden Sternenbanner teilen müssen, versteht sich von selbst.)
Doch dieses Bild, von dem meine Augen eine Woche lang glauben wollten, es sei eine Fotographie, so realistisch, wie es diese Straßenszene der Innenstadt Chicagos wiedergibt – es ist nur die eine Hälfte der Medaille. Durch eine Fensterfassade, fast lotrecht in die Bildmitte hineingestellt, spiegelt sich das Bild und wird erst jetzt ein ganzes. Alles noch einmal: Art Institute, silberne Wolkenkratzer-Stele, Hochhäuser, Straßenpiste, die Autos, rollend oder FOR LEASING wartend. Selbst die vier Menschlein an der Ampel fehlen nicht. Kein blinder Fleck in diesem Spiegel. Er lässt nichts aus. Peinlich exakt verdoppelt er die Wirklichkeit. (Lediglich die Farben sind um einen Ton eingedunkelt: das Weiß und Grau der Wolken, die graue Architektur, hoch wie nieder, das dominierende Betonband.) Die Augenzauberei eines Trompe d’oeil, wie es seit der Antike in Europa geübt wird und die Menschen immer wieder narrt und fasziniert. Ob in den VATICAN COLLECTIONS im Art Institute eines dieser Kunststückchen der italienischen Renaissance ausgestellt war und den Maler Richard Estes angeregt hat zu seinem Bild?
Eine zweite Kunstkarte habe ich seinerzeit in Chicago erworben, wie ich jetzt beim Durchblättern sehe: Dasselbe Art Institute an der Michigan Avenue, diesmal aber wirklich eine Fotografie, eindeutig, „um 1900“ datiert. Der breit ausgreifende Bau, mit Tympanon, Säulen, Arkaden im vorgeschobenen zentralen Bereich. Konkurrenzlos streckt er sich hier noch in den Raum. Weder nach oben noch zu seinen Seiten muss er die Aufmerksamkeit des Betrachters teilen. Als stünde er in unbebautem Gelände. Ein Solitär.
Auch das ein Augentrug. Denn auf der Fotographie füllt das isoliert dastehende Kunstinstitut gerade mal die hintere Hälfte des Bildes. Seine vordere Hälfte wird von der vorbeiführenden Straße eingenommen, ihrer Pflasterung, scharf geteilt in Licht und Schatten. Eine ausgespannte Kutsche steht vor dem Museum, und ein urtümliches Automobil fährt darauf zu, mit dicken Ballonreifen. Auf hohem Kasten („Bock“) der Chauffeur, ein Steuerrad in Händen wie Zügel. Livree und steife Kappe, wie es einem „Kutscher“ gebührt. Ach ja, zwei Menschlein sind ebenfalls auf den zweiten, dritten Blick zu entdecken: ein Fußgänger, ein Radler. Sie ersaufen beinah im endlosen Pflastermuster.
Dieser komische hohe schwarze Kasten (auch das erkenne ich erst jetzt): Er war offensichtlich der Blickfang für den Fotografen „um 1900“. Wie ein dicker Klecks sitzt („thront“) das urtümliche Gefährt inmitten von Leere. Das Auto wollte er festhalten, der Fotograf, die technische Neuheit menschlichen Sich Fortbewegens, durchaus nicht das dahinter liegende Gebäude, das bei mir sofort alle Aufmerksamkeit in Beschlag genommen hat. Dem Fotografen diente es seinerzeit möglicherweise bloß als Größenvergleich.
So gesehen, ein Schritt zurückgetreten und die Augen zusammengekniffen, hat sich nichts Wesentliches geändert zwischen der Fotographie „um 1900“ und der fotorealistischen Malerei von 1984. Das mächtige antikische Gebäude ist sich gleich geblieben (nicht, wie in Europa, durch Kriege demoliert oder zerstört). Doch den unvergleichbar weiten Raum dieses Landes musste es sich von früh an mit den Verkehrswegen teilen, vor allem in den Städten. Auf beiden Abbildungen, auf der Fotographie wie bei Richard Estes, bleibt den Behausungen nur der halbe Raum. Wenn in Europa ein Gebäude hingestellt wurde, als neuer Standort einer polis, zu ihrer Verschönerung, um den Bewohner zum Dableiben zu verlocken, hat das Gebäude von Chicago den Charakter eines „landmark“: Zeichen zu sein, Orientierungspunkt in einer Bewegtheit in Zeit und Raum, ohne Anfang, ohne Ende. Damals, zu Beginn des vorletzten Jahrhunderts, noch im Status einer Vision, die erst verwirklicht sein wollte: Freie Bahn für automatisierte Mobilität. Ein Jahrhundert später hat sie sich erfüllt mit der Selbstverständlichkeit eines beliebigen Alltags. Als ein gemaltes Stillleben.
Und Menschen – sie gehören nicht auf die Straßen, „um 1900“ so wenig wie 1984. Es sei denn, sie halten ein Steuerrad in Händen.
Michael Zeller
Richard Estes: Michigan Avenue with View of the Art Institute, 1984. Art Institute, Chicago.
Abbildung zwei: Art Institute in Chicago, Foto um 1900. Ebendort.
Michael Zeller hat Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays verfasst. Sein letzter Roman „Falschspieler“ erschien 2008 zuerst unter dem Pseudonym „Jutta Roth“ als angebliches Debüt einer 1967 geborenen Autorin. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.