1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne, 1 Jahr lang: Ab Juni erscheint bei CULTurMAG wöchentlich für ein Jahr Michael Zellers SEH-REISE in zweiundfünfzig Ausfahrten, ein „Tagebuch in Bildern”: Betrachtungen zu Kunst und Leben, von den ägyptischen Pharaonen über die griechisch-römische Antike und das Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart. Heute: Franz Marc: Hirsche im Wald. (Alle Folgen hier).
Dreiunddreißigste Ausfahrt
„Ich werde Dir nun meine Theorie von Blau, Gelb und Rot auseinandersetzen“, schreibt Franz Marc an den Kollegen August Macke, 1910: „Blau ist das männliche Prinzip, herb und geistig. Gelb ist das weibliche Prinzip, sanft, heiter und sinnlich. Rot die Materie, brutal und schwer und stets die Farbe, die von den anderen beiden bekämpft und überwunden werden muß!“
„Bruckmanns Bildkarte Nr.71“ mit den „Hirschen im Walde“ des Franz Marc stammt noch aus der Schulzeit, den frühen sechziger Jahren. In unserer Schule jedenfalls gehörte Marc wie Ernst Barlach oder Ludwig Richter oder Wilhelm Leibl zum festen Repertoire im Deutsch- oder Kunstunterricht (von Albrecht Dürer ganz zu schweigen). So manchen „Besinnungsaufsatz“ habe ich zu ihren Bildern (die uns als eben diese Kunstkarten vorlagen) verfasst. Ich habe ihnen das aber in meinem späteren Leben nie angekreidet. Sicher, ich musste sie als Erwachsener neu sehen lernen und mir zu ihnen einen eigenen Zugang schaffen. Doch unter allen wiederentdeckten Bildern, an deren Hand uns die Lehrer das Sehen beizubringen versuchten, habe ich keines je gefunden, wo ich die Nase rümpfen musste. Nein, zum Lob meiner Schule in Hessen kann ich sagen: Wir sind mit soliden, sicheren Werten großgezogen worden. Die Worte, mit denen die Lehrer sie uns erklärten, mögen verloren sein (spurlos?). Die Bilder selbst aber haben sich im Gedächtnis festgesetzt, bis heute.
So auch Franz Marcs „Hirsche im Walde“. Der Skandal, den der Farbensalat des „Blauen Reiters“ vor dem Ersten Weltkrieg in München und anderswo auslöste, war ja damals, in meiner Schulzeit, immerhin schon ein halbes Jahrhundert alt und hatte sich längst in Anerkennung, bei manchen auch in hymnische Bewunderung aufgelöst. Die roten Bäume auf Marcs Waldbild, der weiße Hirsch, das rote Geweih des anderen – sie mussten einem Jugendlichen schon mit Respekt erklärt werden, damit sie nicht seinem allzeit wachen Hohn verfielen. Was mag dem Lehrer dazu wohl eingefallen sein?
Heute ist die kühne, bahnbrechende Farbgebung von Franz Marc und seinen Mitstreitern noch einmal fünfzig Jahre älter geworden und hat ihren Platz im Kanon der frühen Moderne sicher. Unser Auge hat sich an sehr viel herausforderndere Malexperimente gewöhnen müssen seitdem, und der Rückblick von heute auf die expressive Malerei in Europa nach der vorletzten Jahrhundertwende macht den Blick frei für ein anderes, neues Sehen.
Die weiße Hirschkuh, die sich auf das grüne Moos des Waldes bettet, hart vor ein unmotiviertes Blau gesetzt, und dann noch gekreuzt vom himbeerroten Geweih des Hirsches – dieser ungewöhnliche Farbdreiklang ist bis heute frisch geblieben und hat sich um keinen Deut als etwas Zeitbedingtes verbraucht. Der Angriff auf eingeschliffene Sehgewohnheiten, als dieses Bild entstand, verleiht dem Weiß des Tieres heute, befreit vom Eklat, eine Magie jenseits technischer Kniffe, wie sie dereinst von den Malern ersonnen worden sind.
Es ist ein Gemälde für sich geworden.
„Zum Schluß will ich ein praktisches Beispiel versuchen“, schreibt Marc weiter in seinem langen Brief an den Kollegen August Macke: „Stell Dir einen Akt in einem Wald vor. Der Grund des Bildes also rote Bäume und grüne Laubpartien. Der Akt wird, um dem Rot der Stämme seine Brutalität zu nehmen, weißgelb sein. Um noch ein bißchen kühle Geistigkeit in dieses allzu warme Ragout zu bringen, führen wir noch, eventuell am Arm getragen, ein kaltweißes Tuch ein. Nun Malen!“
Die Psychologie der Farben, damals von Kandinsky, Marc und vielen anderen in Deutschland und Europa theoretisch durchdrungen, hat Farbe, Form und Gegenstand auseinandergenommen und dann, im Malen!, zu einer höheren, nie da gewesenen Einheit wieder zusammmengefügt.
In unseren Tagen weiß es das Auge, und es sieht es: Das Weiß der Hirschkuh wie das Rot der Stämme und des Hirschgeweihs: Sie stimmen. Aus den Farb- und Formzertrümmerungen des Franz Marc sind Ikonen der Kunstgeschichte geworden. Sie haben eine Wirklichkeit geschaffen, aus Instinkt und Kalkül, die nur in Bildern gilt.
Michael Zeller
Franz Marc: Hirsche im Wald, Bruckmanns Bildkarte Nr.71.
Michael Zeller hat Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays verfasst. Sein letzter Roman „Falschspieler“ erschien 2008 zuerst unter dem Pseudonym „Jutta Roth“ als angebliches Debüt einer 1967 geborenen Autorin. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.