Anmerkungen zu Bruno Schulz
– Der polnische Erzähler Bruno Schulz verkörpert den Typus des mitteleuropäischen Schriftstellers, wie er mit dem Zweiten Weltkrieg untergegangen ist. Geboren 1892, vor hundertzwanzig Jahren, im damaligen Galizien (heute Ukraine), kam er vor siebzig Jahren um, im November 1942. Zusammen mit Witold Gombrowicz und Stanislaw Ignacy Witkiewicz bildet Bruno Schulz das Dreigestirn der modernen polnischen Literatur, und auch in Deutschland hat er seit Jahrzehnten eine eingeschworene Lesegemeinde. Von Michael Zeller
Drohobycz – Heute eine Kleinstadt mit achtzigtausend Einwohnern am westlichen Zipfel der Ukraine.
Drohobycz – Zu Kindheit und Jugend von Bruno Schulz im äußersten Osten der Habsburger Doppelmonarchie, der Provinz Galizien. Nach dem Ersten Weltkrieg in raschem Wechsel polnisch, deutsch, sowjetrussisch.
Drohobycz – Schauplatz eines Dichterlebens, in polnischer Sprache.
Sensationen eines Kindes
Diese kleine Stadt: Da ist für Bruno Schulz zunächst und immer wieder das elterliche Haus am Marktplatz Nummer 10, in dem er 1892 geboren wird, die „dunkle Wohnung im ersten Stock des steinernen Hauses am Ring“, eines „jener dunklen Häuser mit leerer und blinder Fassade, die man so schwer voneinander unterscheiden kann“. Da ist die Kindheit zu Hause, die früheste Kindheit. „Durch die niedrigen Arkaden war der weiße und saubere Ringplatz zu sehen. Weinfässer standen reihenweise an der Wand und dufteten. Wir saßen auf einem langen Ladentisch, auf dem an den Markttagen bunte Bauerntücher verkauft wurden, und trommelten von Ratlosigkeit und Langeweile mit den Fersen gegen die Holzplatten.“ Und dann: der „große, verwilderte Garten“ dahinter. Und erst der Dachboden!
Die Sensationen des Kindes, seine weit geöffneten Sinne für die Abenteuer der Welt, erstmals und original erfahren – in dieses frühe Licht ist jede Zeile getaucht, die Bruno Schulz geschrieben hat. Ein Glück für ihn (und für die Literatur), dass die Familie das Haus Nummer 10 am Marktplatz so früh verlassen musste, nämlich 1910. Als Schulz seine „Zimtläden“ schrieb, war der väterliche Tuchladen dahin, der Zauber des Schtetl längst ausgeträumt. Das Gehäuse von Kindheit und Jugend blieb in seiner Imagination rein und unberührt von den Katastrophen späterer Tage, war immer – bis zuletzt – das Haus des Vaters.
Dieses dunkle Haus am Marktplatz, vielleicht muss man Jude sein, um dieses Wort – Haus des Vaters, Haus des Herrn – in seiner religiösen Tiefendimension ganz zu erfühlen: Tempel/Wiege von Genealogien/Hort der Familie, geschichtsmächtig werdend in der Abfolge von Vater zu Sohn, von Jakob zu Joseph. Keinerlei religiöse Spuren (im engen Sinn) sind zu entdecken in den Schriften von Bruno Schulz, doch das Zweigestirn, das den Himmel seiner Prosa ausleuchtet, heißt „Jakub“ und „Józef“, der ewige Vater und der ewige Sohn.
Um dieses Zweigestirn kreisen als Satelliten, mal fern, mal nah: die Mutter, die Geschwister, diverse Onkel und Tanten und Cousins, allerlei Kostgänger, das Dienstmädchen Adela, die Ladenschwegel unten im Tuchgewölbe, das Hündchen Nimrod. Das Haus des Vaters: Dort allein hat die Kunst von Bruno Schulz ihr Zuhause. Von hier aus bohrt sich der Schriftsteller, Geschichte um Geschichte, Satz für Satz, vor zum Mittelpunkt der Welt. Nur von hier aus, vom Marktplatz Nummer 10 zu Drohobycz in Galizien – exakt von diesem Punkt, bestand für Schulz die Chance, sich einen Spalt, nicht größer als für ein Paar Augen, freizuschreiben in die Weite des Seins. Darin unterwegs zu sein konnte deshalb seine Sache nie werden. Lebenszentrum und Ort seiner künstlerischen Imagination war und blieb für Bruno Schulz die Stadt Drohobycz. Hier war er hineingeboren worden in die Welt, hier blieb er sein Leben lang, von hier ging er wieder fort, nach fünfzig Jahren kurzer Frist.
Paris und die Frauen
Gut: Bruno Schulz studierte ein paar Semester Architektur im nahen Lemberg, er kannte Wien, die Metropole seines Landes seinerzeit. Sommerfrische in der Tatra, in Schlesien, Reisen nach Warschau, um seine Manuskripte und Bilder zu Markte zu tragen, Kollegen zu treffen, die mit Glück manchmal zu Freunden wurden. Seine einzige große Reise im August 1938, für drei Wochen – mit sechsundvierzig Jahren: nach Paris! Was für ein Fiasko! Schon die Anreise: Aus Abscheu vor Hitlerdeutschland nimmt er den Umweg über Italien. Dann die Hoffnung, seine Zeichnungen und Drucke in Pariser Galerien unterzubringen – im August!
Muss man es sagen? „Paris war leer – alle besseren Kunstsalons geschlossen. Die Illusionen von einer Weltkarriere im Nu verweht.“
Was blieb, waren die Frauen, die Frauen von Paris. Wenigstens sie. Hieß es in der ersten Woche noch in einem Brief „Paris, eine schreckliche Stadt, was für Frauen!“ – verwandelten sich eben diese Scheuchen nach wenigen Nächten auf das Wunderbarste in die „wundervollen Pariser Frauen“ – wobei Bruno Schulz sich, wie ein Freund berichtet, „nicht immer über das kommerzielle Gebaren mancher Frauen im klaren war. So zum Beispiel erkundigte er sich bei mir schüchtern, ob er die Schulter unserer Tischnachbarin streicheln dürfe, die offensichtlich nichts dagegen einzuwenden hatte. Er war ergriffen allein von der Berührung.“
Und doch: Die Reise war nicht ohne Folgen für Bruno Schulz. Freilich reiften ihre Früchte, verrückt genug, auf der lichtlosen Seite des Baumes. Zurück in Drohobycz, seinem Drohobycz, schreibt er an den polnischen Maler Ludwik Lille, der in Paris lebt: „Ich war schon wieder eingeschlossen im kleinen und sicheren Kreis des Drohobyczer Horizonts. Es ist Herbst und überall blühen Astern und Dahlien. Ich rate Ihnen dringend, einmal in die Provinz und sei es nur bis Versailles zu fahren. Das Schloß brauchen Sie nicht anzusehen, aber das Städtchen ist bezaubernd. Ziehen Sie doch in die Provinz. Sie werden sehen, wie wundervoll es dort ist.“ Ein zärtlicheres Bekenntnis zu seinem Leben im Abseits, wenn auch gleichsam verschluckt, ein Hauch von Idylle – es findet sich sonst nirgends in seinen Briefen und Aufzeichnungen. Hier war jemand zurückgekehrt aus der großen Welt, zu sich, und atmet erleichtert das Fremde aus.
Ausbruchsversuche
Ansonsten: Immer wieder der heftige Wunsch auszubrechen aus der Enge, aus dem Vertrauten, aus der Pflicht. Denn Drohobycz hieß für Bruno Schulz vor allem auch der Alltag als Zeichenlehrer (mit sechsunddreißig Stunden Unterricht pro Woche), hieß die finanzielle Versorgung der verwitweten Schwester und einer Cousine. Das Trauma des Erstickens, des „dumpfen Scheintods“ als Künstler „fern von den Hilfsmitteln und Impulsen kultureller Zentren“: „Heute gähnt Leere und Leblosigkeit von der Landschaft auf mich, ich kann mich am Tische des Herrn nicht mehr nähren“ – Vision vom Hungertod eines Künstlers.
Die ewige Litanei seiner Versetzungsgesuche an die Schulbehörde, in untertänigstem Kanzleistil gedrechselt. Fluchtgebärden Richtung Warschau – warum sich denn nicht als Journalist versuchen? Hilferufe an die Freunde, sie möchten ihn – wie auch immer – aus Drohobycz befreien. Aber das alles wirkt so halbherzig: Ist die Ungeschicklichkeit, mit der Bruno Schulz seine Veränderung anfasst, als sei es die kalte Schulter einer fremden Frau, am Ende nicht doch gewollt? Jedenfalls steht sich hier einer selbst im Weg und weiß das zuinnerst wohl auch: bewusstes Inszenieren des eigenen Scheiterns – das gar nicht ohne masochistische Lust geschehen sein kann.
Auch das wirksamste Werkzeug zum Ausbruch – Heirat, Gründung einer eigenen Familie – schlägt er sich selbst aus der Hand, nein: Er dreht es so lange zwischen seinen Fingern hin und her, bis er’s vergisst – und es ihm entgleitet (die Frau nämlich): „Meine Verlobte will mich verlassen und nimmt meine Rückkehr nach Drohobycz zum Anlaß, die Beziehungen zu mir abzubrechen. Ich muß ihr leider recht geben.“ Und nahm das Un-Recht auf sich und ließ sie gehen, um nicht selbst gehen zu müssen. So bleibt Bruno Schulz denn in Drohobycz, treu der Geburt, bis zuletzt, auch unter der judenfeindlichen deutschen Besatzung ab Juli 1941. Er muss sein Haus verlassen, die Arbeitshöhle, wird ins Ghetto gepfercht, hält immer noch aus, versehen mit falschen Papieren, mit Geld von Freunden, könnte fliehen, bleibt – was fesselt ihn? Auch diese seine letzte Möglichkeit, im Angesicht des eigenen Untergangs, die Heimat zu verlassen – vertagt, hinausgeschoben, und kommt zu spät, für immer. Ende 1942, vor ziemlich genau siebzig Jahren, wird Schulz von einem SS-Mann erschossen, auf offener Straße, auf dem Weg zum Brot zu holen. „Ich bin mit Drohobycz zusammengewachsen“, schreibt er 1938. Schicksalsergebenheit? Tiefere Einsicht, hierher zu gehören, bis zuletzt?
Galizien und was geblieben ist
Drohobycz – „Meine Landschaft: unter einem niedrigen und weiten Himmel, flockig, voller Lämmerwolken, mitten in sanften Farben und Brisen unseres Klimas. Hier entfaltet die Morgenröte ihre traurige Unendlichkeit, gleich hinter dem letzten Plankenzaun. Hier fällt hinter der nahen Kante des Horizonts die Landschaft farbig gegen den Balkan ab …“
Galizien, die östlichste Provinz im Habsburger-Vielvölkerstaat Kakanien, wie ihn Kaiser Franz Joseph ein letztes Mal verkörpert hat, Galizien war eine Melange aus Völkern, Sprachen, Religionen, Kulturen, und es war der Mutterboden großer Erzähler, auf Deutsch, Jiddisch, Polnisch, Ukrainisch. Es ist die Weite einer Landschaft, eben von Horizont zu Horizont, gegen die die Vorstellungskraft des Menschen sich nur behaupten kann, wenn sie in die Vertikale geht, hinab zu den Wurzeln der Dinge oder hinauf zu einem Gott. In der planen Ebene lassen sich keine Geheimnisse verstecken – Felder, Wälder, Sümpfe, Seen liegen offen zutage. So dominant Mutter Erde, weithin sichtbar die einzige Erhalterin des Lebens, so fragil sind die Konstrukte, die Vater Staat darauf zu errichten sucht, verjährt schon beinahe mit der Grundsteinlegung, verlieren sich rasch als Gesten der Hilflosigkeit. Politisch ist diese Region immer am Rande, bis heute, immer unendlich weit von den Zentren der Herrschaft entfernt, kaiserliche oder kommissarische Botschaften ertrinken in der Weite des Landes, kommen oft erst an, wenn das Regime bereits in andere Hände übergegangen ist. Die wechselnden Machtverhältnisse, das blutige Widerspiel der Nationalitäten und Ideologien, das über Europa gekommen ist zwischen 1892 und 1942, den Daten von Bruno Schulz‘ Leben: Er erfuhr das alles, ohne sich einen Fußbreit aus seinem Drohobycz zu entfernen. Das kostete ihn das Leben, und mehr: verschwunden sein Grab, verschollen die unveröffentlichten Manuskripte, der größere Teil seiner Korrespondenz, die Zeichnungen und Drucke, die Bruno Schulz aus dem Ghetto herausschmuggelte – unauffindbar bis heute.
Geblieben sind seine veröffentlichten Werke, die Grafiken und Drucke sowie seine Erzählbände „Die Zimtläden“ und „Das Sanatorium zur Todesanzeige“. Kraftvoll und lebendig über den Tod hinaus.
Michael Zeller
Eine Reihe von Bildern von Bruno Schulz finden Sie hier und hier.
Foto oben: Pawlikowska, Wikipedia.