Es gibt so bange Zeiten
– Michael Zeller über Oleksandra Kowaljowa, die gerade zwei Sammlungen mit deutschen Gedichten in der von Unruhen gebeutelten ukrainischen Stadt Charkiw herausgegeben hat.
Selten ist der Name „Charkiw“ so häufig in deutschen Medien aufgetaucht wie in den letzten Monaten. Die Stadt im äußersten Osten der Ukraine, gerade mal zwanzig Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt, ist mit Beginn dieses Jahres schlagartig ins Zentrum weltpolitischer Auseinandersetzungen gerückt. Der Aufstand der ukrainischen Bevölkerung gegen seine Regierung, der mit dem Name „Maidan von Kiew“ verbunden ist, wurde im Osten von heute auf morgen zu einem Kriegsschauplatz. Was nach siebzig Jahren Frieden, auch wenn er manchmal verdammt kalt war, undenkbar schien, ist hier Wirklichkeit geworden: Krieg! Es herrscht wieder Krieg in Europa! Mit modernstem Gerät geführt, sind Tausende Menschen bereits darin umgekommen, und ein Ende ist nicht in Sicht.
Zur gleichen Zeit sind in der Stadt Charkiw zwei Gedichtsammlungen mit deutscher Lyrik erschienen, zweisprachig, auf Deutsch und Ukrainisch. Zusammengestellt und übersetzt hat sie Oleksandra Kowaljowa, Professorin für Literatur an einer der vielen Hochschulen dieser Stadt und selbst Lyrikerin.
Der eine Band trägt den Titel „Die Bläue“ und umfasst die deutsche Lyrik der Romantik, von Friedrich Hölderlin bis zu dem späten Erben Theodor Storm. Auf 230 Seiten kommt das Beste zusammen, was zwischen 1800 und 1850 in deutscher Sprache an Gedichten geschrieben worden ist: vierundzwanzig Autoren von Novalis, Kleist, Brentano, Chamisso, Eichendorff, Platen bis zu Annette von Droste-Hülshoff, Lenau und Möricke. Links das deutsche Original, rechts die Neuübersetzung von Oleksandra Kowaljowa. „Meine ganze Liebe“, schreibt sie, „gehört den deutschen Romantikern. Ich bewundere diese reine Atmosphäre, diesen Enthusiasmus“.
Kurz zuvor hat sie, ebenfalls in ihrer Stadt Charkiw, die Sammlung mit Gedichten deutschsprachiger Lyrikerinnen herausgebracht, ebenfalls in beiden Sprachen. Diesmal schlägt die Herausgeberin den Bogen noch weiter: Vom Barock (Katharina Regina von Greiffenberg) bis in unsere unmittelbare Gegenwart (Madeleine Weishaupt, Jahrgang 1970). Dazwischen ist nahezu alles vertreten, was im deutschen Literaturkanon Rang und Namen hat: Karoline von Günderode, Else Lasker-Schüler, Irmgard Keun, Christine Lavant, Ingeborg Bachmann, Friederike Mayröcker.
Ich muss gestehen, dass mich das bewegt: Zur gleichen Zeit, da es gefährlich ist, in Charkiw auf die Straße zu gehen (Kowaljowas Neffe, der mittlerweile auch in Deutschland bekannt gewordene Schriftsteller Serhij Zhadan, ist dabei krankenhausreif geschlagen worden), erscheinen in der gleichen Stadt zwei Bände mit deutschen Gedichten, frisch übersetzt. Zwischen den Kampfplätzen und der Druckerei liegen vielleicht nur zwei oder drei Straßen. Da kann man sich rasch eine Kugel einfangen, und sei es eine verirrte.
Es ist nicht zu erwarten, dass die beiden Lyrik-Sammlungen weite Kreise ziehen werden. Schon gar nicht, dass sie die politischen Machthaber in der umkämpften Region zur Vernunft bringen werfen.
Aber sie leisten viel mehr, und zwar Entscheidendes. Seit den frühen neunziger Jahren habe ich Charkiw mehrfach besucht, im Rahmen der Städtepartnerschaft Nürnberg-Charkiw, und dabei auch Oleksandra Kowaljowa kennengelernt, eine kleine, energiegeladene Frau und begeisterte Pädagogin. Einige Male waren wir an der Pädagogischen Hochschule, an der sie unterrichtet, zu Gast und lasen dort vor aufgeweckten Jugendlichen verschiedener Jahrgänge unsere Texte vor. Zuvor aber hatten die Schüler uns in wunderbarem Deutsch die Gedichte unseres Herkommens vorgetragen. Mädchen, in weißen Blusen und mit einer großen Schleife im Haar, rezitierten Heines „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ oder „Es gibt so bange Zeiten“ von Novalis.
Sie und manch weitere Generationen von Schülerinnen und Schülern werden in der Ukraine aus diesen beiden neuen Sammlungen deutsche Sprache und deutsche Literatur lernen, mit Herz und Verstand. Wenn sich der Pulverdampf dieses unsäglichen Kriegs längst verzogen hat, anderswohin, wird die stille, einsame Arbeit der Oleksandra Kowaljowa immer noch ihre Früchte tragen.
Wenn die Waffen sprechen, schweigen die Musen, wusste der Lateiner. Aber dieses Schweigen hat einen längeren Atem als der Donner aller Kanonen. Wer daran nicht glaubt, sollte aufhören zu schreiben.
Michael Zeller
Oleksandra Kowaljowa (Hrsg): Die Bläue. Deutsche Lyrik der Romantik. Zweisprachige Ausgabe.
Oleksandra Kowaljowa (Hrsg): Gedichten deutschsprachiger Lyrikerinnen.Vom Barock bis in die Gegenwart. Zweisprachige Ausgabe.