Geschrieben am 15. Januar 2014 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Literaturtage Mittelamerika: Sergio Ramírez über zentralamerikanisches Erzählen

Am 24. und am 25. Januar finden im Frankfurter Literaturhaus die von der LitProm und vom Weltempfänger veranstalteten „Mittelamerika Literaturtage“ statt. Bei uns als Medienpartner, und weil Mittelamerika eines unserer ständigen Themen ist, finden Sie samstags und mittwochs bis dahin einschlägige Artikel zu Autoren und Themen der Veranstaltung, zu der wir Sie herzlich einladen!

Sergio Ramirez

Sergio Ramírez (Nicaragua): Wirklichkeiten erfinden

Ende der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts machte ich mich an die Aufgabe, die Texte für eine Anthologie zentralamerikanischer Kurzgeschichten zusammenzustellen, die der zentralamerikanische Universitätsverlag EDUCA dann 1973 herausbrachte. Zu jener Zeit grenzte es nahezu an ein Wunder, wenn ein Autor aus Honduras in Guatemala oder einer aus El Salvador in Nicaragua gelesen wurde, wobei die Bücher, mutig und schlicht, fast immer auf eigene Rechnung gedruckt wurden und nahezu ausnahmslos in ihrem Land unter Hausarrest standen. Lokale Publikationen, deren Spur sich schnell verlor und deren Auflage 500 Exemplare normalerweise nicht überstieg.

Meine Arbeit an dieser Anthologie wurde zu einer beinahe archäologischen Unternehmung von fünf Jahren, denn ich musste die Kurzgeschichtenbände in den Regalen von Bibliotheken oder Antiquariaten aufspüren, die nie jemand besuchte, musste die Familien verstorbener Autoren danach fragen oder die Texte in alten Ausgaben von Provinzzeitschriften suchen. Aber die Literatur war da, und ich wollte sie finden. Und bei diesem ganzen jugendlichen Eifer – ich begann diese Schatzsuche mit gut 20 Jahren – ging es auch um meine eigene Identität als junger Schriftsteller aus Zentralamerika, darum, meine verstorbenen oder vergessenen Kollegen zu finden, die in der Isolation ihrer Heimatländer verschwunden waren. Denn trotz aller Widrigkeiten und aller Hinweise, die mir klar zu machen versuchten, dass Zentralamerika nichts war als ein Trugbild der Geschichte, glaubte ich an diese Identität, die ich für immer als die meine annahm und die mir die Wirklichkeit zu verweigern schien.

Ein zerbrochener Spiegel

Denn diese kleinen Länder, die trotz ihrer geografischen Nachbarschaft so weit voneinander entfernt zu sein schienen, hatten – Panama einmal ausgenommen – eine gemeinsame Geschichte, die bis zur präkolumbischen Zeit zurückreichte; die während der gesamten Kolonialepoche eine gemeinsame blieb bis hin zur Unabhängigkeit im Jahre 1821 und zur erbitterten Trennung, die dem Projekt einer zentralamerikanischen Bundesrepublik unter Führung des Generals Francisco Morazán ein Ende setzte. Von da an blieben sie allein, arm und hilflos, entzweit durch schäbige Vorurteile und noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in nutzlose kriegerische Konflikte verstrickt, wie den berühmten Fußballkrieg zwischen Honduras und El Salvador im Jahre 1969, der trotz seiner scheinbaren Banalität tiefer liegende Wurzeln besaß und unter anderem das Projekt wirtschaftlicher Integration zunichtemachte, das 1960 begonnen worden war.

Doch auch wenn es sich um einen zerbrochenen Spiegel handelte, war es immerhin doch ein gemeinsamer Spiegel, und ich konnte in ihm die Bruchstücke meines eigenen Gesichts sehen. Unterschiedlich, doch gemeinsam. Ein System kommunizierender Röhren, in dem jeder Teil sein eigenes spezifisches Gewicht behielt, von der mit feudalen Zügen behafteten Gesellschaft Guatemalas mit  einer der höchsten Anteile indianischer Bevölkerung auf dem Kontinent, marginalisiert und ausgebeutet, bis zur modernen Kaffeeexportgesellschaft Costa Ricas, die sich als europäischer verstand. Doch waren sie dabei alle vereint unter dem gemeinsamen Nenner einer patriarchalen, ländlichen Gesellschaft, in der die Oligarchen den Ton angaben.

Und so begannen die zentralamerikanischen Erzähler meinen Karteikasten zu füllen, und ihre Geschichten, so rudimentär fotokopiert wie die damalige Technik es zuließ – diese Fotokopien auf lichtempfindlichem Papier, die der Entwickler bald ganz gelb aussehen ließ – türmten sich in ihren Heftern, bis sie schließlich das Wunder von 1200 Buchseiten zu Stande brachten, ein veritables literarisches Porträt.

Überwundene Folklore und Vervielfältigung des Schreibens

Eines der Dinge, die ich während der langen Suche entdeckte, war die Tatsache, dass die zentralamerikanische Prosa jener ersten sechs Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts nicht nach Tendenzen oder Schulen eingeteilt werden konnte, die chronologisch aufeinander folgten, und dass die Erzähler kaum nach Generationen geordnet werden konnten, außer im Fall der Modernisten oder der nicaraguanischen Avantgardisten von Anfang der 1930er Jahre, obwohl diese vor allem Dichter waren; oder der Schriftsteller der Generation der demokratischen Revolution der 1940er Jahre in Guatemala, die auf die lange Diktatur des Generals Jorge Ubico folgte, und die, als die Regierung von Oberst Jacobo Arbenz im Jahre 1953 gestürzt wurde, alle ins Exil gehen mussten.

Es handelte sich um eine Art friedlicher Koexistenz traditioneller Formen des Schreibens und Beschreibens, die unterschiedlichen Epochen angehörten, und in diesem anachronistischen Durcheinander, in dem einzigartige Beispiele wahrhaft künstlerischer Realisierung nicht fehlten, suchte sich die Moderne mit neuen Formen des Schreibens durchzusetzen.

Dabei hatte das Schreiben, das mit den Traditionen brach und der Moderne den Weg zu bahnen versuchte und erst Ende der 1950er Jahre mit dem Erzählungsband des Guatemalteken Augusto Monterroso „Gesammelte Werke (und andere Erzählungen)“ den Durchbruch schaffte, bemerkenswerte Vorläufer, unter denen vor allem die Costaricanerin Yolanda Oreamuno (1916-1956) zu nennen ist.

Sie war diejenige, welche die Debatte über das Neue und das Überkommene auf die Tagesordnung setzte, als sie 1943 schrieb: „Ich gestehe, dass ich die Folklore gehörig SATT habe, genauso groß geschrieben. Von diesem Winkel Amerikas aus kann ich sagen, dass ich das ländliche, traditionelle Leben fast aller Nachbarländer kenne, doch von ihren anderen Problemen nur sehr wenig weiß. Die Farbenspielereien dieser Kunstform sind erschöpft, das ästhetische Erschauern, das sie einst hervorriefen, entsteht nicht mehr …, es wird Zeit, dass wir dieses Trauerspiel beenden, die billige Verehrung des folkloristischen Autors …“

Es kam zu einem Generationswandel mit tiefgreifenden Konsequenzen, und das alte, von Yolanda Oreamuno angeprangerte Problem existiert nicht mehr. Anachronismen gibt es nicht mehr. Die Suche geht jetzt in vielerlei Richtungen, und die Formen des Schreibens sprengen die traditionellen Schubladen. Deshalb sind auch die Themen immer unterschiedlicher, halten sich weniger an vorbestimmte Schemata und lassen sich nicht in rigide Bahnen lenken.

Die heutigen Autoren erzählen uns Geschichten von imaginären Wesen, die jedoch der realen Welt entstammen und in einer Atmosphäre leben, in der das private Leben permanent vom öffentlichen Leben durchdrungen wird. Das heißt, die Geschichten verlaufen immer im Strom der Geschichte. Denn die Literatur hört nie auf, ein imaginärer Ausfluss der Realität zu sein, der sich immer wie eine Bühne darstellt, auf der die Variationen dynamisch sind und nicht selten auf überraschende Weise stattfinden.

Eine Geologie der Literatur

Doch wie sehr hat sich die zentralamerikanische Gesellschaft im vergangenen halben Jahrhundert verändert? Und was ist Zentralamerika am Beginn des 21. Jahrhunderts? Ich würde sagen, dass diese Gesellschaft, genau wie im gesamten 20. Jahrhundert, aus nichts anderem besteht als gleichsam übereinander liegenden geologischen Schichten, nur dass jetzt den alten Schichten neue hinzugefügt werden. Neue Schichten Wirklichkeit bilden sich über den alten, doch sie alle koexistieren gleichzeitig in einer Art simultanem Anachronismus mit gewissen Zügen von Modernität, die fast alle durch das Phänomen der Globalisierung herbeigeführt werden. Über die Baumreihen, die die Feldwege säumen, auf denen die alten, von Ochsen gezogenen Karren fahren, ragen die Sendemasten der Mobilfunkgesellschaften.

Die archetypischen Diktatoren, die bis Mitte des 20. Jahrhunderts und zuweilen noch darüber hinaus herrschten – Estrada Cabrera, der Miguel Ángel Asturias zu „Der Herr Präsident“ inspirierte; Maximiliano Hernández Martínez, der das grausame Massaker an Tausenden von indigenen Bürgern befahl, von dem Claribel Alegría und D. J. Flakoll in ihrem Roman „Asche des Izalco“ erzählen; Anastasio Somoza, der Begründer der Dynastie, die eine Rolle in meinem Roman „Margarita, wie schön ist das Meer spielt: Sie alle sind heute Teil einer Geschichte, die für die Literatur noch nicht tot, erledigt ist, weil es in ihr immer auch um Bezüge zur Vergangenheit geht.

Doch in den 1960er, 70er und 80er Jahren kamen neue Diktaturen und Staatsstreiche, in einer Zeit, als die Militärs mit Unterstützung der Vereinigten Staaten und der einheimischen Oligarchen die Macht übernehmen und die demokratischen Spielräume drastisch einschränken, während, inspiriert vom Sieg der kubanischen Revolution, Guerillas entstehen und die unbarmherzige Unterdrückung der indigenen und ländlichen Bevölkerung in Honduras, Nicaragua, El Salvador und Guatemala neue Völkermorde nach sich zieht.

Volksrevolutionen, die Diktatorendynastien stürzen, wie diejenige, die 1979 in Nicaragua siegte. Über Jahre anhaltende kriegerische Konflikte zwischen Armeen und Guerilla, die sich zu tatsächlichen Bürgerkriegen auswuchsen und erst mit der Unterzeichnung von Friedensabkommen beendet wurden, wie 1992 in El Salvador und 1996 in Guatemala und zum ersten Mal, nach Jahrzehnten militärischer Herrschaft, den Raum für demokratische Regierungen öffneten, die immer noch nicht vollständig gefestigt sind.

Militärputsche gehören seither der Geschichte an, außer einigen allerdings Besorgnis erregenden Ausnahmen wie dem Sturz des verfassungsmäßigen Präsidenten von Honduras, Manuel Zelaya, im Jahre 2009, bei dem das Militär erneut die Kasernen verließ. Heute existieren mehr oder weniger zuverlässige verfassungskonforme Systeme, und die Bürger können das Recht ausüben, ihre Regierungen zu wählen. Doch unter der Oberfläche dieser demokratischen Systeme versucht der traditionelle Caudillismo immer noch, die Institutionen unter seine Kontrolle zu bringen und sie zu zerstören und straft damit die Verfassungen Lügen.

Der Caudillismo

Dieser Caudillismo, der so hartnäckig überlebt, ist das Schlimmste all unserer politischen Übel und ein überkommener Ballast der Vergangenheit, denn die ländlichen Gesellschaften haben nicht zu existieren aufgehört, und der Caudillo ist nichts anderes als ein kulturelles Produkt der ländlichen Gesellschaft. Ob von der Rechten oder von der Linken, ist der zentralamerikanische Caudillo die Inkarnation der paternalistischen Figur, die im 19. Jahrhundert entstand, als der Patron der Viehzuchthacienda Anführer von Milizen und Militärmeutereien war. Man schuldete ihm Gehorsam, als Herr über Ländereien und Vater zahlreicher Nachkommen, ehelicher und unehelicher, denn er besaß auch das Recht der Ersten Nacht. Mit dem Tod, dem Gefängnis oder der Verbannung bestrafte er die Unzufriedenen und die Aufrührer, und nach diesem Modell, das dem Lauf der Zeit angepasst wurde, überlebt er auch heute noch. Willkürlich belohnt oder bestraft er, vergibt Pfründe, um Anhänger zu gewinnen, und anstatt die Gesellschaft zu verändern, hält er, so gut er kann, an ihrer Erstarrung fest, denn die Armen sind sein größtes politisches Kapital, so lange sie arm bleiben. Dieser alte Caudillo hat die Hürde des 21. Jahrhunderts übersprungen und stirbt deshalb auch nicht als literarische Figur…

Literatur: durch eine deformierte Linse schauen

Insofern ist alles Ergebnis von Abnormalität, und dem Autor bleibt nichts anderes übrig, als das öffentliche Leben durch diese verschwommene, deformierte Linse zu betrachten, wobei er, als Schöpfer, dem Ansturm dieser Abnormalität auch nicht entkommen kann, denn sie  verändert, erschüttert unausweichlich das Leben der Menschen, die immer noch, wie seit zwei Jahrhunderten, unter der Willkür der Macht leben, und wenn sie als Personen, Figuren in die Erzählung gelangen, dann tragen sie das Gewicht dieser Abnormalität mit hinein, zu der noch weitere Verformungen kommen, die die neuen Zeiten mit sich bringen.

Halb Moderne und halb ländliche Gesellschaft, sich abwechselnde Zivilregierungen und hartnäckig überdauernder Caudillismo, endlich erstrittene demokratische Wahlen und Wahlbetrug, wirtschaftliches Wachstum und Abgründe des Elends, obszöner Reichtum und Marginalität, stetig wachsende Schüler- und Studentenzahlen und chronisch armer Bildungssektor, Vermehrung der urbanen Räume und ländliche Bevölkerung, die von diesen Räumen angezogen wird, welche oft genug wie die Lager ländlicher Wanderarbeiter aussehen. Gesellschaft des Computerzeitalters und des Mais, der wie zur Zeit der Mayas Saatkorn für Saatkorn mit dem Pflanzstock auf die Felder ausgebracht wird.

Die Literatur muss nicht notwendig auf die Abnormalitäten des sozialen Lebens eingehen, die von der Willkür der Macht bestimmt sind, jeder Art von Macht, der politischen Macht, der Macht der Mafias, der Jugendbanden, der Drogenkartelle; doch kann sich die Arbeit des Schriftstellers, die von einzelnen, individuellen Geschehnissen lebt, nicht leicht davon frei machen, da sie das Leben der einzelnen durcheinander bringen. Die Literatur existiert nur in Bezug auf die menschlichen Wesen und deren Existenz. Was für die Literatur zählt, ist das Leben, und es sind Leben, die sie erzählt. Und die Wechselfälle dieser Leben der kleinen Leute, der kleinen Wesen, wie sie Tschechow nannte, haben mit dem Schicksal zu tun, das seinerseits aus den Schatten der Macht erwächst.

Und so entsteht die kreative Vielfalt einer Region, die aus sechs kleinen Ländern gebildet wird, die sich gegen alle Widerstände verbissen darum bemüht, ihre Grenzen zu tilgen. Die Literatur eignet sich gut dafür, diese Grenzen zu tilgen, sie zu überwinden und den Strom der Universalität zu suchen. Indem uns unsere Schriftsteller zeigen, wie wir schreiben, zeigen sie uns auch, wer wir sind, und zeigen es der Welt.

Sergio Ramírez

Aus dem Spanischen von Lutz Kliche

Der vorliegende Text ist die leicht gekürzte Fassung des Vorworts zur Anthologie mittelamerikanischer Erzählungen, die Sergio Ramírez 2012 unter dem Titel Puertos abiertos (Offene Häfen) beim mexikanischen „Fondo de Cultura Económica“ herausgegeben hat. Er erschien zuerst in den LiteraturNachrichten Nr. 119/Winter 2013. Foto: Homepage des Autors.

Sergio Ramírez nimmt an den „Literaturtagen Mittelamerika – Eine Region erzählt“ am 24. und 25. Januar im Literaturhaus Frankfurt teil. Auf Deutsch von Sergio Ramírez lieferbar:

Maskentanz. Roman. Peter Hammer 1998 (Übers. Lutz Kliche)
Vergeben und vergessen. Erzählung(en). Edition 8 2004 (Übers. Lutz Kliche)
Margarita, wie schön ist das Meer. Roman. Stockmann 2012 (Übers. Lutz Kliche)
Strafe Gottes. Roman. Edition 8 2012 (Übers. Thomas Brovot)

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