Am 24. und am 25. Januar finden im Frankfurter Literaturhaus die von der LitProm und vom Weltempfänger veranstalteten „Literaturtage Mittelamerika“ statt. Bei uns als Medienpartner, und weil Mittelamerika eines unserer ständigen Themen ist, finden Sie samstags und mittwochs bis dahin einschlägige Artikel zu Autoren und Themen der Veranstaltung, zu der wir Sie herzlich einladen!
Die Realität ist immer zweifelhaft
Die mexikanische Autorin und LiBeraturpreisträgerin von 1996, Carmen Boullosa, wird an den Literaturtagen zum Thema „Über Grenzen: Mittelamerika erzählt“ teilnehmen. Sich selbst sieht die in New York lebende Schriftstellerin als Mexikanerin, literarisch ist sie jedoch eine wahre „Grenzgängerin“: Spielerisch lässt sie (historische) Fakten und Imagination, Vergangenheit und Gegenwart, Kultur- und Gendergrenzen zu komplexen Palimpsesten verschmelzen. Besonders in ihrem bisher nicht ins Deutsche übersetzten, intelligent gestrickten Roman „La otra mano de Lepanto“ (dt. Die andere Hand von Lepanto) fusionieren historische und aktuelle Kontexte, fiktive und reale Figuren zu einem mehrstimmigen Werk über Kulturgrenzen, Terror, Gewalt, Humanität und die Macht der Imagination. Lea Himmelsbach hat sie dazu befragt.
In Deutschland könnte man den Eindruck gewinnen, Carmen Boullosa habe sich nach ihren erfolgreichen Romanen „Die Wundertäterin“ (Übers. Susanne Lange, Suhrkamp 1995) und „Der fremde Tod“ (Übers. Susanne Lange, Suhrkamp 1998) zur Ruhe gesetzt – ihre folgenden acht Romane, u. a. „El complot de los Románticos“ für den sie 2008 den spanischen Café Gijon-Preis erhielt, blieben dem deutschen Publikum leider verwehrt. Auch „La otra mano de Lepanto“, ein vielschichtiger Abenteuer-, Geschichts- und Meta-Roman, gewitzter Dialog mit Miguel de Cervantes und intelligente Auseinandersetzung mit (kulturellen und religiösen) Grenzziehungen, erreichte bislang nur ein spanisch- und portugiesisch-sprachiges Publikum: Hauptfigur María, eine Zigeunerin, erlebt im spanischen Granada um 1560 das Ende des friedlichen Zusammenlebens von Juden, Christen und Muslimen. Sie gerät zwischen die Fronten und findet sich nach einer aufreibenden Odyssee schließlich inmitten der christlich-osmanischen Seeschlacht von Lepanto wieder, wo die türkische Übermacht erstmals besiegt wird und María auf ihren „Schöpfer“, Miguel de Cervantes trifft. Das klingt sehr historisch, Boullosas raffinierte, mal augenzwinkernde, mal von Schrecken gezeichnete Erzählweise bringt jedoch auch universelle und aktuelle Fragen ins Spiel.
Lea Himmelsbach: Ihr Buch ist in Reaktion auf den 11. September 2001 entstanden. Wie kamen Sie auf die Idee, einen Roman über die historische Seeschlacht von Lepanto (1571) zu schreiben?
Carmen Boullosa: Ich fing gerade als Stipendiatin im New Yorker Cullman Center an und hatte bereits ein Projekt, das in vollem Gange war, als sich das Unglück ereignete. Danach kehrte ich zu meinen Notizen zurück, konnte mich aber nicht konzentrieren. Ich war gerade erst in diese Stadt gekommen, das tägliche Leben gestaltete sich schwierig und die internationalen Beziehungen waren in der Krise. Viel stärker als die Äußerungen Bushs haben mich aber die glühenden religiösen Bekenntnisse überrascht. Wie konnte es Anfang des 21. Jahrhunderts noch einen „religiösen“ Krieg geben? Ich unterhielt mich mit Freunden, las Zeitungen, aber nichts konnte mir dieses Ereignis verständlich machen.
Klar, da gab es den politischen und wirtschaftlichen Kontext, aber was mich wirklich umtrieb, war der Diskurs. Aufgewühlt fing ich an, Lope de Vega zu lesen – ein mir besonders lieber Autor, bei dem ich mich geborgen fühle, der mich erleuchtet, mich „zudeckt“, wenn mir danach ist. Beim Durchblättern seines Buches stieß ich auf die Schlacht von Lepanto, bei der sich Katholiken und Türken bekämpften. Keine Araber und Christen wie in jenen Tagen, aber ebenfalls Anhänger von Allah und Gott – und darüber kam ich zu Miguel de Cervantes.
Warum haben Sie ausgerechnet eine tanzende Zigeunerin, Hauptfigur aus Cervantesʼ exemplarischer Novelle „La Gitanilla“ (Das Zigeunermädchen), als Protagonistin gewählt?
Cervantes war als Soldat bei der Schlacht von Lepanto. Er erlebte die Vertreibung der Morisken und den fanatischen Versuch, die sogenannte Blutreinheit in Spanien herzustellen – gleichzeitig kämpfte er selbst darum, solch ein „Reinheitszertifikat“ zu erhalten. „La Gitanilla“ thematisiert das alles, ohne eine klare Position einzunehmen. Mit diesem beweglichen und hinterfragbaren cervantischen Raum wollte ich arbeiten. Gleichzeitig hatte ich das Bedürfnis, die Geschichte jener Zigeunerin erzählen – mit der Kraft des 21. Jahrhunderts und dem Geist des Barocks.
Sie schildern keine Heldengeschichte, sondern geben die Schlacht in teils komisch-grotesken Szenen aus der Sicht von Randfiguren wieder. Ist das ein Versuch, die Geschichte umzuschreiben?
Aufgrund meiner eigenen Situation konnte ich dieses Blutvergießen nicht als heldenhaft, sondern nur als pathetisch empfinden. Um mich dieser Schlacht nähern zu können, suchte ich in allen Winkeln nach Humor und Lebendigkeit. Die Beschreibung der Schlacht ist daher der lebhafteste Teil des Romans: Gewalt und Entsetzen nähren die beiden sich bekämpfenden Seiten. Ich hatte das Bedürfnis, von der Gewalt und den Gräueln zu sprechen, die verkleidet als „Gut“ und „Böse“ einen Großteil der Welt verschlangen.
Sie loten die Grenzen des Menschlichen aus und offenbaren dessen Zerbrechlichkeit angesichts der Gewalt. Basiert das auf persönlichen Erfahrungen?
Nein, nicht direkt. Ich schreibe Romane, um „unsere“ Erfahrung, unser Leben und mittendrin die Eigenart des komplexen, außergewöhnlichen Ichs zu verstehen. „La otra mano de Lepanto“ ist ein sehr persönlicher Roman, der jedoch keine Erlebnisse aus meinem Leben aufgreift. Die Protagonisten sind Figuren, die größtenteils den Werken von Cervantes oder seiner Zeitgenossen entspringen, die er oder ich gelesen haben. Im Fokus ist immer der Mensch. Dieses unerklärliche Phänomen, das wir sind.
Wie in vielen Ihrer Werke scheint es auch in „La otra mano de Lepanto“ unmöglich, zwischen Fakt und Fiktion zu unterscheiden.
Die Realität ist immer zweifelhaft. Die Fiktion kann sich vollkommen vertrauenswürdig präsentieren – ein Mechanismus, den man überprüfen kann. Die Realität hingegen verlangt keine Kontrolle, auch wenn das Reale häufig unglaubwürdig ist.
Viele Ihrer Bücher sind Meta-Romane, Pastiches, literarische Hommagen. Wie entwickeln Sie die Ideen für solch komplexe Werke? Gibt es einen bestimmten Ritus?
Ich schreibe morgens im Bett. Das ist nicht unbedingt ein Ritus, sondern eher Disziplin, Liebe zu meinem Beruf und Beharrlichkeit. Ich fing mit 15 Jahren an zu schreiben. Jetzt bin ich fast 60 und schreibe immer noch. Die Herausforderung des Erfindens und Erschaffens wird immer größer. Ich greife dabei nicht auf Formeln zurück, da es mit dem narrativen Gerüst im Roman ähnlich ist wie beim Gedicht: Aussage und Form müssen in Relation stehen. Deswegen erlebe ich bei jedem Roman, den ich schreibe, einen Prozess der „Neu-Erfindung“ meiner eigenen Literatur. Die (häufig historischen) Schauplätze, die ich in meinen Romanen verwende, verbinde ich, wie im Falle der Schlacht von Lepanto, mit „Spiegelbildern“, aktuellen „Brennpunkten“ bzw. wichtigen Ereignissen der Gegenwart, die ich wahrnehme, fürchte oder gar genieße. Denn die Freude ist essentiell für den Erzähler.
Neben internationalen und historischen Themen widmen Sie sich auch ihrer Heimat Mexiko. Auf den Drogenkrieg antworteten Sie in einem ungewöhnlichen Format: mit dem Gedicht „La Patria Insomne“ (dt. „Schlaflose Heimat“).
Die Kriegserklärung des mexikanischen Ex-Präsidenten Felipe Calderón hat mich zerrissen, mein Land zerfetzt, den offiziellen Diskurs in einen Kriegsdiskurs verwandelt. Das gab es seit den 1920er Jahren nicht mehr. Die Folgen sind fürchterlich: 100.000 Menschen sind gestorben oder verschwunden. Mit dem Langgedicht „La Patria Insomne“ versuche ich, Worte für die intime Erfahrung dieses schrecklichen Krieges zu finden. Außerdem habe ich zuletzt einen persönlichen Essay geschrieben, der kurz vor der Veröffentlichung steht: eine Nacherzählung der sechs Jahre Drogenkrieg, in der ich mich dem Thema in anderer Weise nähere.
In Ihrem neuen Roman „Texas“ über den historischen Verlust von Texas blicken Sie abermals zurück in eine schmerzhafte Vergangenheit. Kann Literatur Wunden heilen?
Ich glaube, dass Wunden nicht heilen, wenn man nicht über sie spricht. Durch Schweigen werden sie größer, sie beginnen zu faulen. Deswegen ist es wichtig, über sie zu reden. Im Fall von „Texas“ ist es mehr als das: Mit dem Verlust fast der Hälfte seines Territoriums verlor Mexiko sein Selbstbewusstsein und sein Selbstbild. Mit Texas hat es die Möglichkeit verloren, einmal Eroberer zu sein – und nicht der Eroberte.
Sie engagieren sich bei der Internetplattform Words without Borders, sind Moderatorin der mit mehreren Emmys ausgezeichneten Serie Nueva York (CUNY TV). Was treibt Sie an?
30% der New Yorker sind Latinos. New York ist eine Stadt, in der Spanisch gesprochen wird, auch wenn das der kulturelle Mainstream nicht anerkennt. Das Projekt der Sendung Nueva York ist in diesem Zusammenhang wichtig: Hier soll das kulturelle Leben der spanischsprachigen Menschen in der Stadt für das öffentliche Fernsehen eingefangen werden. Ich bin sehr stolz, ein Teil davon zu sein. Mein Beitrag zum Programm ist gering, ich führe Interviews mit Schriftstellern und Künstlern. Der Rest unseres Teams durchkämmt New York auf der Suche nach „niedriger“ und „hoher“ Latino-Kultur. Sie leisten hervorragende Arbeit.
Sie sind Mexikanerin in New York. Betrachten Sie sich als Grenzgängerin?
Ich bin Mexikanerin. Ich habe an Mexiko geglaubt, bin in Mexiko aufgewachsen, habe dort studiert, habe Kinder und Enkelkinder in Mexiko. Ich bin keine New Yorkerin. In New York bin ich eine Fremde. Dieses Fremdsein gibt mir jedoch auch eine Art Zugehörigkeit zu dieser Stadt. Ich glaube, ich bevorzuge den Begriff „Fremde“ gegenüber dem der „Grenzgängerin“. Ein Schriftsteller behält sich diese kritische Distanz zu dem Ort, an dem er wohnt: Er ist von Berufs wegen fremd. Ein Fisch im Wasser seiner Fremdheit.
Lea Himmelsbach
Dieser Artikel erschien zuerst in den LiteraturNachrichten Nr. 119/Winter 2013.
Carmen Boullosa: La otra mano de Lepanto. Roman. Siruela 2005 (Taschenbuch)/ Fondo de Cultura Económica 2005 (Hardcover).
Von Carmen Boullosa sind auf Deutsch erschienen:
Verfolgt. Roman. Aufbau 1996, Übers. Susanne Lange
Sie sind Kühe, wir sind Schweine. Roman. Suhrkamp 2000, Übers. Erna Pfeiffer
Die Wundertäterin. Roman. Suhrkamp 1995, Übers. Susanne Lange (mit dem LiBeraturpreis ausgezeichnet).
Der fremde Tod. Roman. Suhrkamp 1998, Übers. Susanne LangeLea Himmelsbach hat Hispanistik studiert und ist derzeit Praktikantin bei litprom. Sie lebt in Mannheim.
Foto: Carmen Boullosa 2002 in Leoben (Österreich), Wikimedia Commons, Autorin: Erna Pfeiffer, Quelle.