Dass die fundierte und leidenschaftliche Auseinandersetzung mit Literatur quer durch alle Medien immer weiter ausdünnt, dass sich die professionelle Literaturkritik aus vielerlei Gründen in der Krise befindet, das ist so wahr wie ärgerlich. Wend Kässens mit einem Beitrag zur Diskussion:
Für mehr Kritik in den Medien
– Mit der Literatur ist im großen Ganzen schon alles in Ordnung. Nichts Neues unter der Sonne. Die Autoren schreiben, was sie schreiben müssen, manche auch das, was sie oder andere wollen. Die thematische Bandbreite und die literarische Vielfalt, auch die formale, scheinen mir noch nicht beeinträchtigt. Bücher werden gekauft, manche auch gelesen, sogar die Lyrik findet noch ihre Leser, und sei es in kleinen Zirkeln im Netz. Das Problem liegt woanders.
Gregor Dotzauer hat in seiner Dankesrede zum Alfred-Kerr-Preis im Jahr 2009 nachdrücklich auf einen problematischen Strukturwandel hingewiesen. Er zitierte den Iren Ronan McDonald, der vom Tod des Kritikers schrieb – ich würde es eher das Verschwinden des Kritikers nennen. Natürlich kann man sich angesichts der prominenten Kritiker in den großen Zeitungen und ihrem Bemühen um die Vermittlung der Literatur aller Gattungen – (aller Gattungen? Wann haben Sie das letzte Mal in einer großen Zeitung die Rezension eines Lyrikbandes gelesen?) – fragen: Was ist gemeint? Dotzauer verweist auf die Heere von Amateurexperten, die sich in Blogs und auf den Websites ihrer Lieblingsbuchversender tummeln und die Demokratisierung des Gewerbes vorantreiben, auch wenn es „der Substanz nach oftmals Unsinn ist“, was sie anmerken. Und er benennt das Meer oder Mehr an Möglichkeiten, die das Netz bietet. Aber der Schein trügt. Im Meer geht man auf Dauer unter.
Dotzauer wird exemplarisch und verweist auf das Jahr 1959, damals erschienen im Laufe des Jahres im „Spiegel“ drei literarische Titelgeschichten. Er sucht im Jahr 2009 vergeblich nach nur einer. Und hört den Chefredakteur stöhnen, „lasst diese Verrückten, die Literatur als gesellschaftliches Überlebensmittel betrachten, bloß in ihren Ghettos – oder lasst sie wenigstens dort, wo sie nichts kosten!“. Als ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Kritikerverbandes weiß ich, wovon die Rede ist. Der heillos zerstrittene Verband litt heftig unter dem totalen Bedeutungsverlust seiner Klienten. Aber statt sich gemeinsam zur Wehr zu setzen und mit neuen eigenen Ideen eine Attacke zu reiten, kämpften sie gegeneinander. Wer will heute noch Kritik? Ist der Kritiker, wenn man mal von den großen Zeitungen absieht, wo aber der Raum für Kritik auch immer kleiner wird, auch, weil die Auflagen sinken, überhaupt noch gefragt – über seine zitierfähige, werbewirksame Sentenz hinaus? Ist nicht gerade auch die Literatur aus Sicht der Medien längst zum Teil des umfassenden Unterhaltungsprogramms einer vereinnahmenden Kulturindustrie geworden?
Die Verlage liefern die fertige Kritik gleich mit, ganz kurz, mittel und länger. Man liest sie in den bunten Blättern, Magazinen und Werbezeitungen, wo sowieso zwischen Werbung und redaktionellem Teil kaum mehr unterschieden wird. Wo im öffentlich rechtlichen Radio früher in kommentierten Lesungen die Weltliteratur präsentiert wurde, ist heute der Krimi und das unterhaltende Genre zuhause, das Feature bitte mit vielen O-Tönen und ohne längere Monologpassagen, die Form des literarischen Essays hat im Radio keinen Platz mehr. Auch eine Literaturkritik findet nicht mehr statt, die dafür eingesetzte Sendereihe heißt heute „Zum Lesen empfohlen“ oder so ähnlich, ist 2.30 Minuten lang, enthält O-Töne, Musiken oder beides – und lässt dem sogenannten Kritiker etwa neun Zeilen Eigenes. Möglichst witzig!
Wo die Kunst nur noch Ware ist, ist der Kritiker nur noch als Verkäufer gefragt. Dotzauer spricht von der wachsenden Zahl von Schreihälsen und Phrasendreschern, die sich nur so gegen das allgemeine Netzgemurmel durchsetzen zu können glauben. Nur das Spektakuläre, das Laute hat noch eine Chance. Den öffentlichen Intellektuellen, auf dessen Rückkehr nicht nur Dotzauer hofft, gibt es nicht mehr. Die Globalisierung und Amerikanisierung des Marktes, der auch bei uns das Ranking von allem und jedem zum kommerziellen Maßstab macht, führt in der Buchbranche zu mit großem Geldaufwand promoteten weltweiten Bestsellern – das sind dann die Bücher, die als Unterhaltungsware zwar viel verkauft werden, aber das, was gute Literatur zu leisten vermag, schon lange nicht mehr transportieren. In den Buchkaufhäusern und Buchketten liegen diese Titel hoch gestapelt und unübersehbar auf einem Tisch gleich neben der Kasse. Dennis Scheck wirft sie dann in seiner Sendung „Druckfrisch“ für alle, die sich zu sehr später Stunde noch für Bücher interessieren, öffentlich in den Müll, was ihnen aber angesichts des Werbeaufkommens nicht schadet.
Spektakulär in Szene gesetzte Preise, z. B. Deutscher Buchpreis für den besten Roman mit Longlist, Shortlist und Entscheidung, oder Leipziger Buchpreis finden zwar die erhoffte Medienresonanz, führen aber auch dazu, dass sich alle Medien auf dieselben Bücher und Autoren stürzen. Möge niemand sagen, man habe einen wichtigen Titel übersehen! Das Aparte, das Leise, das Verquere, die Überraschung, das gute Buch aus dem kleinen Verlag, hat so gut wie keine Chance mehr.
Wir reden von Bildung als Chance! Gute Literatur braucht ein kundiges und kritisches Gegenüber, das sich zu Wort meldet, zur Diskussion führt, Zusammenhänge herstellt, die Kontroverse nicht scheut und den Blick für die Qualität schult. Es muss im Zusammenhang mit Literatur auch erlaubt sein, wieder über Ästhetik zu reden!
Die Literatur kann uns mit dem ganz anderen konfrontieren, uns das Sehen, Hören und Sprechen, das Denken neu lehren, die Sinne schärfen, die Differenzierung hervortreiben, das Selbstbewusstsein stärken. Sie kann Gegenpol sein zu den Meinungsmachern, zu den Trivialisierern, Banalisierern, Profanisierern, zur Entsinnlichung des Alltags, Gegenpol zum Verlust des Eigenen und zum Aufgehen in Konsum und Unterhaltungsindustrie. Aber ohne eine kundige und engagierte Vermittlung in allen dafür zur Verfügung stehenden Medien, zumal in öffentlich rechtlichen, steht die Literatur auf verlorenem Posten.
Also: Nichts Neues unter der Sonne.
Wend Kässens
Wend Kässens, geboren 1947, Studium der Germanistik, Soziologie und Theaterwissenschaft. Dramaturg und Publizist. Kulturredakteur beim NDR, von 1991 bis 2009 Leiter der Literaturredaktion von NDR Kultur. Vorstand im Deutschen Literaturfonds und in der Hamburger Rinke-Stiftung. Herausgeber der Romane von George Tabori und des Journal-Werks von Paul Nizon. Zuletzt erschien: „Das Große geschieht so schlicht, Unterwegs im Leben und Schreiben“. Hamburg: Corso Verlag 2011. 176 Seiten. 26,90 Euro. Mehr hier.
Dieser Kommentar entstand als „Klartext“ im Rahmen des Münchner Literaturfest 2011.