Geschrieben am 1. Dezember 2010 von für Litmag, Lyrik

Jan Wagner: Australien

In alle Himmelsrichtungen und darüber hinaus

– Kreuz und quer über den Globus, welch ein Traum! Und dann ein tiefes, tiefes Loch durch die Erde graben, bis man in Down Under wieder rauskommt… Jan Wagners vierter Gedichtband reist durch die Welt und schaut in den Zeitenschacht.

In südlichen Urwäldern beginnt die Reise. „älter als der bischofsstab, / den es hinter sich herzieht“, sitzt dort das Chamäleon „auf seinem ast“. Es kann nicht nur seine Farben wechseln, sondern bewegt auch die Augen unabhängig voneinander:

„mit einem blick am himmel und dem andern

am boden – so wahrt es den abstand

zu beiden.“

„Abstand“, der den Überblick ermöglicht,  ist ein Schlüsselwort dieser Lyrik. Leicht ist darin die Perspektive der Autorenfigur zu erkennen. Wie das Urzeittier scheint auch sie ruhig zu verharren, ein Auge auf das Ganze gerichtet, das andere auf das leuchtende Detail.

Sensibel und nonchalant wird das Geschaute ins Bild gesetzt. Nichts Dunkles gibt es hier, die Texte sind nicht schwierig auf jene Art, die Leser verschreckt. Überall herrscht ein warmes, gleichmäßiges Licht, selbst wenn das, was man sieht (und man sieht es wirklich) eher schauerlich ist wie in der Historie von Onesilos. Von diesem Heerführer wird berichtet, dass die Feinde den Kopf seiner Leiche über ihr Stadttor nagelten, wo sich alsbald ein Bienenschwarm in ihm niederließ. „da oben, der schädel am stadttor, / der mit dem ersten licht zu summen beginnt“… Sinnlich und unmittelbar öffnet sich der Text, geheimnisvoll bleibt sein Tiefennetzwerk.

Jan Wagner erzählt komplexe Geschichten in konzentriertester Form: jeder Satz ein Kapitel. Handlungen und Ereignisse werden zu Impressionen heruntergedampft. Da ist beispielsweise der „mann, der das café verläßt und einen haufen schrott // entdeckt, in den sein autoschlüssel paßt“. Das Gedicht heißt „meteorit“ und schildert, wie das Außerirdische verschiedene Personen heimsucht. Einzelne Szenen fügen sich zu einem Tableau zusammen, das der Leser in allen Details studieren kann. Jedes spricht. Aber zu fürchten ist nichts mehr; die Gefahrenzone, das irrlichternd Unkontrollierbare ist schon bewältigt.

Glocke und Kessel

Jan Wagner

Vor drei Jahren rezensierte Jan Wagner die „Gespräche“ von Julien Gracq und rühmte: „Was für ein schönes und einprägsames Bild, mit dem Julien Gracq die Beziehung zwischen Literatur und Leben zu fassen versucht: Man habe sich … einen Kessel und eine Glocke vorzustellen“. Beide seien der Form nach so ähnlich, dass man den Kessel als umgestülpte Glocke ansehen könne und umgekehrt – verschieden sei allerdings der Zweck. Der Kessel diene der Nahrung, also dem Leben, die Glocke dem Klang.

Dieses Gracqsche Bild wird in unerwarteter Weise zu einer Folie für Wagners Gedicht „die missionsstation“. Es beginnt wie ein Kannibalenwitz:

„pater fernando endete karfreitag

in einem kessel“

und setzt sich fort mit der Andeutung weiterer Todesfälle. Dann spricht der allein übrig gebliebene Pater:

„was mich betrifft: ich züchte meine rosen,

läute die kühle

glocke…“

Der Kessel mutiert zum Mordinstrument, das Leben und der ihm innewohnende Nahrungszwang enthüllen ihre finsterste Seite. Die „kühle glocke“ hängt wohl in einem lianenumrankten Elfenbeinturm, zu dessen Füßen sich die Rosen eher absurd ausnehmen…  Gracqs „schönes Bild“ wird zuschanden.

Gleichzeitig wird es neu geboren im virtuosen Kontext der Wagnerschen Metaphern: „pater sebastianos beine schwollen / so kolossal, // bis er auf mehlsäcken zu sitzen schien.“ Oder: (ich) „studiere bücher, denen der schimmel ganze / kapitel anfügt“. Und die Schlussverse: „kein laut, wenn ich im schatten der soutane / im dorf erscheine, / nichts was sich regt. am morgen dachte ich, / es riecht nach schnee.“ Eine stillgestellte, in vielerlei Richtungen ausdeutbare, manchmal idyllische, manchmal grausige Realität, immer wunderbar zu lesen: diese Spannung prägt Jan Wagners Texte von Beginn an.

Für seine Beherrschung tradierter Formen wurde der Autor vielfach gerühmt. Nun übt er sich in der Verhaltenheit dessen, der nichts mehr beweisen muss. Es gibt Sonette von bezaubernder Lässigkeit. Der Halbreim dominiert, Anklang also statt Gleichklang, was das Formkorsett ein wenig aufschnürt. „Australien“ kann auch als eine Expedition zur Erforschung des Reims gelesen werden, der es an Kühnheit nicht mangelt. Wo er sich dem Verschwinden nähert oder fehlt, entstehen die schönsten Gedichte.

„Man ist glücklich in Australien, sofern man nicht dorthin fährt.“ Der bleichen Wahrheit dieses Mottos von Alvaro de Campos, eine der Masken des portugiesischen Dichters Fernando Pessoa, möchten wir doch entschieden widersprechen. Setzen wir aber „Australien“ in Anführungszeichen, stimmt der erste Teil der Behauptung auf jeden Fall.

Gisela Trahms

Jan Wagner: Australien. Gedichte. Berlin: Berlin Verlag 2010. 106 Seiten. 18,00 Euro.
Mehr zu Jan Wagner + Hörproben der Gedichte: Literurport.de
Gisela Trahms über Jan Wagners Gedichte „ikone“: (NWS, 2) und „urmusik“ (NWS II, 14).