Geschrieben am 18. Dezember 2013 von für Comic, Litmag

Jacques Tardi: Ich René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag II B

5ef69_em_stalag_14iib_cover„Ich hasse die ganze Welt.“

Die Welt ist grau in grau. Die einzige Farbe, die in dieses Grau leuchtet, ist das rot der Hakenkreuzfahne. Es ist nicht viel zu erzählen. Der graue Himmel. Der Hunger. Der Regen. Der Hunger. Die Schläge. Der Hunger. „Papa, du wiederholst dich“, sagt der diesen Comic erzählende Sohn mehrmals. Auch er wiederholt sich. Aber gerade das muss mit diesen keineswegs redundanten Wiederholungen erzählt werden, denn der Hunger, der Regen, die Schläge waren ständige Begleiter des Kriegsgefangenen. Von Ole Frahm

Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag II B, der jüngste Comic von Jacques Tardi, erzählt die Geschichte seines Vaters im 2. Weltkrieg. Sie beginnt 1933 mit Hitlers Machtergreifung, René Tardi ist 18. Drei Jahre später meldet er sich freiwillig zur Armee, um Frankreich gegen die Nazis zu verteidigen, er wird Panzerfahrer und Unteroffizier und gerät während der deutschen Frankreich-Offensive 1940 wie unzählige andere französische Soldaten in Kriegsgefangenschaft. Das Stalag II B liegt im Wehrkreis II, im heutigen Polen, seinerzeit Pommern, 100 Kilometer von der Ostsee entfernt.

Anders als Kriegsgefangene anderer Länder konnten die Franzosen als besiegte Nation mit einer kollaborierenden Regierung Petain nicht darauf hoffen, vorzeitig entlassen zu werden oder ausgetauscht zu werden. Doch weniger Hoffnungslosigkeit denn Wut, eine genaue Analyse der eigenen Situation und sehr große Wut auf die Politiker, auf Hitler, auf den Krieg kennzeichnen die Erinnerungen René Tardis, die sein Sohn mit großer Meisterschaft konturiert.

Mise en page 1Jacques Tardis Werk darf als einer der wenigen und sicher als aufregendster Versuch gelten, das lange 20. Jahrhundert zu erzählen – beginnend mit der Niederschlagung der Pariser Commune 1871 bis in die jüngste Gegenwart, die Tardi seit über vierzig Jahren mit zeitgenössischen Kriminalerzählungen begleitet. „Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag II Bist sein erstes Werk, das den 2. Weltkrieg ausdrücklich adressiert. Und was für ein Werk! Sein Vater hat Anfang der 1980er Jahre auf sein Bitten hin drei Schulhstalag-ii-befte mit Erinnerungen und kleinen Skizzen gefüllt. Tardi übersetzt diese Texte in Sprechblasen. Der Vater erzählt dem Sohn seine Erlebnisse, während sie geschehen.

Der Zeichner selbst begleitet den Vater als vielleicht 12-jähriger Junge bei seinen Erlebnissen, kommentiert ihn, fragt nach und widerspricht ihm auch gerne. Die Panels in „Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag II Bsind nicht realistisch, sondern unübersehbar als nachträgliche Konstruktionen gekennzeichnet. Der kleine Junge bleibt dem historischen Geschehen fremd und wird dem Vater so zum Dialogpartner – auch wenn der Sohn immer wieder über Seiten schweigt, besonders angesichts der Schilderung der unerträglichen und von willkürlicher Gewalt geprägten Haftbedingungen.

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Jacques Tardi

Seltener Realismus

Doch gerade durch diese Technik erzeugt Tardis Album einen viel präziseren Realismus als ihn nur die – wie immer bei diesem Zeichner – sorgfältig recherchierten Hintergründe, Panzer und Uniformen ermöglichen könnten. Der im Comic seltene Realismus gewinnt zudem eine poetische Qualität, wenn der Sohn über Seiten hinweg mit seinem Vater spricht, dessen Antworten und Erklärungen aber nur aus dem Panzer kommen, mit dem er gerade in den Krieg fährt, oder die beiden ebenfalls über viele Seiten hinweg hinter dem Stacheldraht des Lagers entlangspazieren und über die Ausbruchspläne des Vaters diskutieren.

Es sind immer auch Bilder über die Möglichkeit einer Erinnerung, die eingeschlossen und gefangen ist und gerade deshalb in die Gegenwart ragt und keineswegs abgeschlossen ist. Jacques Tardi, der den Orden der Ehrenlegion im Januar 2013 abgelehnt hat, teilt die Wut seines Vaters. Doch macht sich diese Wut niemals blind, sondern ist die Quelle einer außergewöhnlichen historischen Genauigkeit, die auch alltägliche Details aufzeichnet und gerade dadurch den Bericht der viereinhalbjährigen Gefangenschaft so eindringlich erscheinen lässt. Die Aufteilung der Seiten in jeweils gleichgroße, jeweils die Seitenbreite einnehmende Panels erzeugt eine graphische Ruhe, die es ermöglicht, sich auf die Details der Erzählung und ihre Wiederholungen, den Hunger und die Wut zu konzentrieren. Und gerade in dieser grauen Gleichförmigkeit stechen dann die unvorhersehbaren Ereignisse um so brutaler heraus.

„Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag II B“ endet mit dem Marsch aus dem „Stammlager“ im Januar 1945. Es ist dunkel und schneit. Der Vater betont, dass er alle hätte umbringen mögen: „Ich hasste die ganze Welt, unsere Befehlshaber und Frankreich.“ Doch sein Leiden ist noch nicht zu Ende. „Damals konnte ich natürlich noch nicht ahnen, wie lange und dramatisch die Reise sein würde.“ Hoffen wir, dass der zweite Band nicht allzu lange auf sich warten lässt!

Ole Frahm

Jacques Tardi: Ich René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIb (Moi, René Tardi, Prisonnier de guerre au stalag II B). Edition Moderne, Zürich 2013, 200 Seiten, Euro 35.

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