Geschrieben am 23. Januar 2013 von für Litmag, Porträts / Interviews

Im Porträt: Volly Tanner

Volly KindEinige von uns schaffen es, nicht immer nur verlassen zu sein

– Sophie Sumburane hat mit dem in Leipzig lebenden Schriftsteller Volly Tanner gesprochen.

„Und da gab es diesen kleinen, dürren Jungen, der ängstlich in die Schule ging, der ängstlich nach Hause kam und der Bücher las.“, so beginnt Volly Tanners (42) Kurzgeschichte „An der Kreuzung stehen und starten“.

Es ist seine Geschichte. Seine Kindheit, verarbeitet in der Anthologie „Leck mich am Leben“.

Es ist eine Offenbarung. Denn wer Volly Tanner erst seit einem Jahr kennt – so wie ich – der möchte nicht recht glauben, dass diesen Mann irgendetwas erschüttern kann. Dieser immer gut gelaunte Mann, der auf jeder Bühne Witze reißt, der aus dem Stehgreif Texte bühnenreif vortragen kann, der mit seiner Tochter und seiner Frau im Zoo zu treffen ist, der lacht, eigentlich immer. Dieser Mann steht mitten im Leben, das sollte man meinen.

Dann liest man diesen Text, man sieht Volly Tanner, den kleinen Jungen, über ihm die Hand seines Vaters und man muss weinen. Einfach weinen, weil es gar nicht sein kann, nicht darf und doch ist. Es versetzt in die DDR, in der man als Punk auf offener Straße von Polizisten verprügelt wurde, in einer Zeit, in der es Punks offiziell gar nicht gab. Genau da begann Volly Tanner Punk zu sein.

Volly Tanner_Leck mich am lebenSo unnormal werden, wie es nur möglich ist

Er suchte nach einem Weg der Rebellion, gegen die Konformität, aber vor allem gegen den Vater: „möglichst anders sein! Alles, nur anders als der Vater!“, gegen Autorität und eine Normalität, für die er das Wort Rahmbutterrealität fand: „Wenn das hier, was so schmerzt, was so wütend und hasserfüllt war, die Normalität war, dann wollte ich so unnormal, wie es nur möglich ist, werden.“

Und die Mutter sagte:

„Dein Vater meint es nur gut mit dir!“

Und da sind sie wieder, die Tränen, da kommt das Verständnis für die Melancholie in den Texten, die Rebellion und es zeigt sich ganz deutlich der Kampf gegen die Hilflosigkeit: „Der kleine, dürre Junge war acht Jahre alt und hilflos. Er war zehn Jahre alt und hilflos. Er war zwölf Jahre alt und hilflos. Vierzehn. Sechzehn. Hilflos.“

Und plötzlich sieht man wieder den heutigen Volly Tanner und man fängt an zu überlegen. Wer ist dieser Volly, der eigentlich Volker heißt, überhaupt? Wo ist der kleine, dürre Junge? Noch da? Ist er der, der immer lacht?

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Heute jedenfalls ist er Literat. Oder Romancier. Lyriker. Musiker. Lesebühnenerfinder. Moderator. Leipziger Urgestein der Literatur. Kabarettist. Punk. Ja was denn nun?

„Eine niedliche Frage“, kommentiert er. „Ganz zuerst bin ich Volly Tanner – und dem brennt’s irgendwie unter den Nägeln.

Ich versuche mich mitzuteilen und auszudrücken, wollte jahrzehntelang er- und gehört werden und Spuren hinterlassen. Wie Michy Reincke so wunderbar singt: Wir sind alle unsichtbare Riesen und bauen Sandburgen vor der Flut. Mehr ist es eigentlich auch nicht. Vielleicht kann man es so am besten sagen: Der Volly, das ist einer, der einfach keine Ruhe geben will.“

Das passt.

Keine Ruhe geben – in seinem Fall sogar bis zur völligen Erschöpfung. Googelt man seinen Namen, findet man einen Haufen Informationen, einen gigantischen Haufen. Eine nicht enden wollende Liste an Veröffentlichungen, vergangenen Projekten, Touren, Bands, Filmen, Theaterstücken, Lesebühnen: vergangen.

„Noch vor fünf Jahren war ich von 30 Tagen im Monat 27 auf irgendwelchen Bühnen. Das hält keiner aus.“ Auch nicht Volly Tanner. Sein Streben danach ge- und erhört zu werden, führte zum Unausweichlichen: „Ich saß in der Straßenbahn, auf dem Weg nach Hause und musste aussteigen, weil mich die Leute um mich herum so angewidert haben. Das ist mir öfter passiert. Ich musste aussteigen und kotzen. Ich musste auch bei Auftritten von der Bühne gehen und kotzen. Ich absolvierte das ganze Programm inklusive Alkoholismus.“

Das sagt er so dahin, mir wird ganz flau im Magen.

„Ich habe alles da draußen gehasst. Alles und jeden. Ich war ein richtiges arrogantes Arschloch. Irgendwann hat meine Anke mich genommen, gezwungen mich auszuschlafen. Am nächsten Tag lag ein Internetausdruck über Burnout an meinem Bett. Was ich da las, war praktisch meine Geschichte.“

Burnout. Angstzustände. Depressionen. Das Aus?

Im Gegenteil.

Das war der Beginn von Volly Tanner. Dem Volly Tanner, der immer lacht, dem seine Tochter wichtiger ist als jedes Jahr ein neues Buch, der geliebt wird und liebt, vor allem seine Frau. Die Leipziger Kinderbuchautorin und Illustratorin Anke Hartmann: „Durch Anke durfte ich sehr viel lernen, sie hat mich auch beruhigt, da ich in der Zeit vor ihr ein ganz schön negativer Wusel war, der unbedingt immer irgendetwas wollte. Jetzt habe ich alles.“

Und das glaubt man ihm. Er scheint angekommen, in einer Welt, zu der er zunächst nicht zu gehören schien. Er ist noch immer ein Punk, denn das ist für ihn keine Mode: „Punk hat mir das Leben gerettet. Punk war meine Möglichkeit zu kommunizieren in einer Welt damals, in der meine Bedürfnisse nicht beachtet wurden, in der ich als Person, als lebendes und liebenswertes Wesen nicht stattfand. So ergeht es ja auch heute vielen Menschen. Die sind einfach nicht da – für die, die in Bewegung sind. Na ja und später wurde Punk für mich zu einer Lebenseinstellung, die etwas damit zu tun hat, jegliche Autorität prinzipiell zu hinterfragen und sich selber – in DIY-Manier aus dem Sumpf zu ziehen.“

Volly Tanner_ Dead City Radio sendet nochHelle Menschen

Und diese Philosophie findet sich auch in seinen Texten, schnell galt er als einer der wichtigsten ostdeutschen Vertreter des Social Beat, schafft Punkrockliteratur, Texte, die allesamt sprechende Titel tragen: „Rock’n Roll ist doch kein Ponyhof“, „Krisenbewältigung für Fortgeschrittene“, „Wird Zeit, dass wir leben.“ oder „this machine kills fascists“, sind einige Kurztexttitel des 2008 erschienen Hörbuchs „Dead City Radio sendet noch! Texte gegen eine uniformierte Welt.“

Heute legt er keinen Wert mehr auf Erfolg und plötzlich hat er ihn: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass, wenn man aufhört, auf dem Plakat unbedingt ganz oben stehen zu wollen, man auf einmal anfängt, ganz oben zu stehen. Ich bin nun entspannter, das hat mir gutgetan. Heute sind mir andere Dinge wichtig. Das größte Geschenk in meinem Leben hat mir meine Frau gemacht: meine Tochter. Dieses Geschenk kam verdammt spät, ich war so oft, so nah dran an der Klippe.“ Es kam spät, doch es kam rechtzeitig.

Volly Tanners Texte strahlen noch immer einen Weltschmerz aus, aber es ist nun ein vergangener Weltschmerz. Heute kann er sich von anderen Dingen inspirieren lassen: „Ich versuche zu erwachen – vielleicht sogar zu erwachsen. Dabei habe ich es mir mittlerweile zum Prinzip gemacht, helle Menschen zu sammeln und aufzubewahren. Das kann eine Kollegin sein, die warmherzig, tolerant und intelligent ist oder ein Musiker wie Michy Reincke, ein Texter wie Manfred Maurenbrecher oder der Besitzer vom Buchlager im Westwerk, Tommy. Verhinderer und Schlechtredner, Internettrolle und Miesmacher brauche ich nicht in meinem Leben. Dann einfach Augen und Ohren auf Empfang, auch gern mal nach innen, und der Rest ist Training.“

Sophie Sumburane und Volly Tanne

Sophie Sumburane und Volly Tanne

Und so sammelt Volly Tanner helle Menschen, reicht eine helfende Hand und gibt eine Bühne. Seit 2009 trat er bis heute jedes Jahr bei dem Benefizkonzert für die „Afghanistan-Kinderhilfe“ im Leipziger Anker auf, lobte in seiner „Menschenfreundeshow“ WALDEN AM MONTAG im Neuen Schauspiel Leipzig den „Menschenfreundepreis“ MOMO aus, sammelt die Menschen auf seinem „WALDENBlog“ und hat auch noch Zeit für Literatur: Jeden zweiten Donnerstag im Monat auf „Tanners Terrasse“ lädt er zwei Autoren ein, die ihm aufgefallen sind. Witzig und manchmal auch spitz führt er durch den Abend, die Rockerkneipe HELheim ist dabei stets sehr gut gefüllt.

Auf die Frage, wonach er sucht, wenn er einen Kollegen oder eine Kollegin einlädt, antwortet er: „Das ist ganz einfach. Es geht mir nur um mein ganz persönliches Interesse – meine Gäste müssen mir persönlich sympathisch sein und dazu noch eine Geschichte haben (haben aber wirklich die meisten, man muss nur genau zuhören).“

Seid achtsam, hört einander zu

Und Kunstschaffen schafft er auch noch: „Das neue Buch wird gerade geschrieben. Ich probe wieder mit Vicky von Wickenhöfer Lieder ein und Francis DD String hat da auch noch ein paar Ideen. Daneben gibt es immer irgendwo eine Bühne für mich.“

Und so zeigt sich: „Der kleine, dürre Junge ist heute ganz anders.

Aliens gibt es überall, wir sind alle Aliens. Wir sind alle allein. Doch einige von uns schaffen es, nicht immer nur verlassen zu sein.“

Heute auch, weil Volly Tanner vielen dabei hilft. Weil er anders ist. Weil er ein menschlicher Mensch ist.

Was willst du den Menschen sagen, habe ich ihn zum Abschluss gefragt: „Seid Mitmenschen“, hat er gesagt. „Jeder Mensch ist zuallererst Mitmensch – daraus erwächst Verantwortung füreinander. Seid achtsam, hört einander zu. Fügt Euch nicht andauernd Schmerz und Leid zu.“

Und statt nur zu reden, was ja so viele tun, fängt er damit an, bei sich selbst.

„Gewonnen hat nicht der, der am Ende das meiste Spielzeug hat“, las Volly Tanner aus dem Grußwort von Michy Reincke, das der anlässlich der vergangenen Terrasse verfasst hatte vor, und liest es nicht nur, sondern meint es auch.

Also wer ist er nun, dieser Volly Tanner?

„Ich bin alles, was du willst, nur eins mag ich nicht: Wenn man mich als eine Literaturlegende ankündigt, wie so oft vor Veranstaltungen, vor allem hier in Leipzig. Ich bin einfach nur schon länger da, als die meisten anderen.“

Sophie Sumburane

Volly Tanner: Dead City Radio sendet noch! Texte gegen eine uniformierte Welt. Edition PaperONE 2008. Mehr zu Volly Tanner hier. Bildrechte: Vollys Walden. Zur Homepage von Sophie Sumburane.

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