Geschrieben am 16. November 2011 von für Film/Fernsehen, Litmag

Im Kino: Halt auf freier Strecke

Papa funktioniert nicht mehr

– Andreas Dresen zeigt mit „Halt auf freier Strecke“, wie ein Sterben in Würde aussehen kann. Von Kerstin Carlstedt.

Wer glaubt, das Kinogenre Krebstod-Melodram sei ausgelutscht und spätestens seit „Wit“ (2001), der kammerspielartigen Verfilmung von Mike Nichols, sei dem Thema nichts mehr hinzuzufügen, der irrt. Andreas Dresen, der König des Improvisationsfilms, hat mit „Halt auf freier Strecke“ eine Form gefunden, die das Publikum beim Filmfestspiel in Cannes zu Tränen rührte und mit dem Dresen den Hauptpreis in der renommierten Nebenreihe „Un certain regard“ gewann.

Frank (Milan Peschel) ist 44 Jahre alt, verheiratet mit Simone (Steffi Kühnert) und hat zwei Kinder, 14 und 8 Jahre alt. Just als die Familie in ein neues Haus an den Berliner Stadtrand zieht und alles schön sein könnte, beginnen Franks Kopfschmerzen. Am Anfang – wie so oft bei dieser Art von Filmen – steht die Diagnose: Hirntumor, bösartig, Operation nicht möglich, Lebenserwartung – mehrere Monate. Seine Frau weint. Was sagt man den Kindern?

Was folgt, ist ein fast ausschließlich realistisches Abbild von dem, was fast jeder aus Erzählungen kennt oder vielleicht bei krebskranken Familienmitgliedern miterlebt hat. Frank bekommt Chemotherapie, muss zur Bestrahlung – und Dresen zeigt, was das für einen Menschen und seine Familie bedeutet.

Frank und Simone suchen Trost und Hilfe bei verschiedenen ältlich-vertrockneten Psychologinnen und müssen sich halbgare Erkenntnisse anhören wie „Die Diagnose ist kein Todesurteil, nur eine Warnglocke: Leb ich das, was ich leben möchte?“.

Der Familien-Urlaub in einer Wellness-Anlage muss abgebrochen werden, weil Frank ohnmächtig zusammenbricht. Die Tochter ist enttäuscht und reagiert eingeschnappt. Auf dem Rückweg im Auto wird Frank schlecht. Papa funktioniert nicht mehr.

Und die Krankheit wird auch äußerlich sichtbar, Franks Haare fallen aus und der Verfall beginnt. Als er in dem neuen Haus das Klo sucht, verwechselt er es mit dem Zimmer seiner Tochter. Die Tochter beschwert sich bei ihrer Mutter. Diese lacht erst ungläubig – und wischt dann die Pisse im Kinderzimmer weg. Das Haus wird mit gelben Post-it-Zetteln gepflastert, um Frank daran zu erinnern, wo es langgeht.

Bald liegt Frank nur noch im Bett und schläft. Weihnachten steht vor der Tür. Seine Eltern haben den Besuch abgesagt, schicken Pakete. Trotz Morphium hat Frank unerträgliche Schmerzen, wacht in der Nacht auf, schreit, kotzt in sein Bett und weint: „Ich will nicht sterben.“ Schließlich kommt der Tod ganz leise – wie die Schneeflocken vor seinem Fenster.

Berührend wahrhaftig

Sein Glauben an den Produktionsprozess ist das, was an Andreas Dresen immer wieder bewundernswert ist: Stell dir vor, morgen ist Drehbeginn und du hast noch kein fertiges Drehbuch. Dieses Prinzip des Improvisierens heißt zwar nicht, der Regisseur würde sein Team unvorbereitet aufs Set schicken, aber vieles bleibt doch dem Zufall überlassen. Vielleicht macht gerade das die Wahrhaftigkeit seiner Filme aus.

Riskant ist der Einsatz von „echten“ Menschen statt Schauspielern in den Nebenrollen. Ein Schachzug, der aber aufgeht: So ist der Arzt, der die tödliche Diagnose aussprechen muss, ein echter Arzt in einer echten Klinik. Auch der störende Telefonanruf, in dem der Mediziner eine gefühlte Ewigkeit lang organisatorische Fragen bespricht – obwohl der Patient soeben sein Todesurteil bekommen hat – ist echt.

„Halt auf freier Strecke“ wirkt manchmal fast wie ein Dokumentarfilm – oder wie ein Lehrfilm für Klinikpersonal. Sehr erhellend ist die Antwort auf die Frage: Was sage ich meinen Kindern nach einer solchen Diagnose? Und warum es so wichtig ist, dass der Vater nach einem nächtlichen Anfall im Endstadium seiner Krebserkrankung trotzdem weiter zuhause bleiben darf und nicht ins Hospiz muss.

Kerstin Carlstedt

Halt auf freier Strecke. Deutschland 2011. Laufzeit: 110 Minuten. FSK: ab 6 Jahre. Regie: Andreas Dresen. Darsteller: Steffi Kuhnert, Milan Peschel, Inka Friedrich, Ursula Werner, Talisa Lilli Lemke, Otto Mellies, Bernhard Schutz, Mika Seidel, Marie Rosa Tietjen u. a. Verleih: Pandora. Ab 17.11.11

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