Das Volk lacht. Es hat nichts begriffen
– Hans Herbst zu lesen, ohne an den Mann selbst zu denken, geht eigentlich gar nicht. Eingebrannt, zu tief in die Erinnerung eingebrannt sind da diese Episoden und Figuren, bei denen man nicht anders kann, als sich zu fragen: Wie muss einer drauf sein, der so etwas schreibt? Von Matthias Penzel
Was für ein Dichter ist das, bei dem der Antiheld-Held namens Krebs Zuflucht sucht unter einer Tischdecke, da über „El Cumbanchero“ doziert, über Musik und Takt, dazu einen Cognac und als Gesellschaft ein Paar Frauenbeine. Wenn einer so etwas schreibt, kommt die Reaktion wie aus der Pistole geschossen: Was hat der erlebt, was erfunden, und wie schaut er in die Welt? Ja? Oder: Da ist der Killer, der wegen Monk einen Moment zu lange zögert, kaum länger als ein Augenzwinkern; woanders dieser Typ, der in die Tanke stolpert und stottert; in ähnlich sengender Hitze, knochentrockener Tristesse dieser Tramper – trug immer noch die Schlangenlederjacke, die er mit fünfzehn in einem Warenhaus gestohlen hatte – irgendwo in Spanien, der endlich die Frau seiner Träume trifft, die nämlich exakt die Augen hat, nach denen er in Frauen seit ewig sucht … und vor lauter Hitze, Gin, Müdigkeit und Aufregung schläft er am Ende auf dem Beifahrersitz ein. Kann man das lesen, ohne sich Gedanken zu machen über den, der das geschrieben hat?
Kann man über Hans Herbst schreiben und nicht gleichzeitig an den Menschen denken? Kann man überhaupt jemals etwas lesen, etwas Großes lesen, kann man in die Welt von Raskolnikov eintauchen, wie er mit dem Beil auf die Pfandleiherin zugeht, ohne an die rastlosen Augen zu denken, diese ganze Nervosität und zerrissene Seelenlandschaft des spielsüchtigen, von Dämonen gehetzten Dostojewski? Kann man Hemingways Sachen lesen, diese im Stehen niedergeschriebenen Stories und Reportagen, ohne an den Mann zu denken? An die Stierkämpfe, diese ganzen stiernackigen Komplexe, Elefantenjagd und die immer irgendwie misslichen Affären?
Geschmack von Staub, Sonne, Sex, Musik
Fast jedes Nachwort der nun mit den Reportagen abgeschlossenen Herbst-Werkausgabe kreist um den Mann hinter den Worten. Geradezu journalistisch, wie sich die Dichter den Stories nähern. Die Geschichten des Antiheld-Helden Krebs, der an der Art, wie jemand eine Zigarette anzündet, ablesen kann, ob jemand viel Zeit im Freien verbracht hat, diese Geschichten vom Leben da draußen haben schon 1981 Jörg Fauser – der in der deutschen Gegenwartsliteratur sehr wenig für erwähnenswert hielt – veranlasst zu schreiben: „Hier schmeckt jede Seite nach Staub und Sonne und Sex und Musik.“ Als Fauser das erste Buch von Herbst las – schon der Titel wie Musik: „Der Cadillac ist immer noch endlos lang und olivgrün“ – „war es, als ob mir ein alter Freund auf die Schulter klopfte“.
Der Groove und die Kadenzen der Schreibe, Rhythmus und aus der Prosa perlender Takt: Das sind die auffälligsten Merkmale, die einen rätseln und staunen lassen, was für ein Typ hinter diesen Texten steht, in denen weder Handys noch Computer vorkommen. Die Reportagen nun, sie offenbaren, wie Hans Herbst arbeitet, wenn er nicht der Fantasie freien Lauf lässt. Das Halbdunkel von Sporthallen, das kalte Neon schäbiger Treppenhäuser, Schnee oder Hitze, die Kaschemmen von Paris oder Coltranes Ton: Alles wird auch hier so wiedergegeben, dass es dreidimensional aufleuchtet, dass es zu riechen ist. Oder zu schmecken. Sicher, auch in den Reportagen fallen ihm Frauen mit langen Beinen auf, er stiefelt Killern hinterher, Schattenmänner faszinieren ihn, Trickspieler und vor allem und immer wieder und in allen Variationen: Profis. Leute, die ihre Sache ernst nehmen. Er beschreibt sie alle – den Weltergewichtler Ali Cukur (mit dem Kopf voller Hoffnungen), im Graubereich der Legalität den Detektiv (mit einer Reihe Plastikzähne), die Nutten (mit regional variierenden Gaben), auch Bodyguards und Polizisten: Sie alle beschreibt er mit einem Ton – Vokabular und Rhythmus –, der sich von der Prosa seiner Stories kaum unterscheidet.
Herbst bei der Arbeit: hingucken, zuhören, atmen
Die Reportagen sind Variationen, sie gleichen frei interpretierten Coverversionen der Stories oder deren Urversionen. „Tango im Exil“ ist mehr als das, es ist der Samen, der einen ganzen Roman befruchtet hat. Die von TransAtlantik bestellte Reportage sollte von der Latino-Szene in Paris handeln, sehr lebendig, voller Samba und Salsa, eben dieser Cocktail aus Sex und Lust, wie ihn der Herbst so schön zu servieren versteht. Doch der berichtende Dichter, der beobachtende Reporter entdeckte, was nicht schön und witzig war. Seine bislang unveröffentlichte Reportage „Tango im Exil“ beleuchtet Samba und Salsa, belauscht aber auch Chilenen im Exil, die Gefolterten und deren Leiden und deren Horror vor den Deutschen, dem Konzentrationslager in der Colonia Dignidad: Zwar wurde die Reportage nicht gedruckt, bescherte uns aber den nach wie vor verblüffend wahrheitsgetreuen und immer noch mitreißenden Roman „Mendoza“.
Anders als die Stories legen die Reportagen das frei, worüber man beim Lesen von Herbst so staunt und rätselt: den Dichter hinter den Zeilen. In beiden ist er der unauffällige, aber neugierige Beobachter auf der Durchreise, Wanderarbeiter, eben mal an den Rändern der Gesellschaft, scheinbar zufällig in der Rolle des Ermittlers. Er macht sich nicht ständig Notizen, sondern hört zu, beobachtet. Herbst bei der Arbeit. Ein Profi, der auf der Suche nach Wahrheit sein Handwerk ernst nimmt, die Sinne hellwach.
Für „Polizei in Hamburg“, jetzt erstmals in Buchform, geht es in die Unterwelt, wo Milieu und Politik einander zuprosten, Porno und Mafia schunkeln. Und das ist nur die Vorspeise zu „Ein charmanter Italiener“. Nicht Krebs in den Stories, sondern Herbst im Echtleben, wo er echten Mördern, Dealern und Pack hinterherstiefelt. Manchem läuft er fast ins Messer. Klar, er riskiert sein Leben. Erwähnt wird das nur nebenbei, denn es geht ja nicht um ihn.
„Der harmlose Reisende“, bisweilen „sehr belämmert“, sitzt und singt für uns vierzig Stunden in einem Bus irgendwo in Brasilien, er begibt sich in Lebensgefahr, „mutterseelenallein auf der Straße“, geht mit der Crew des Traumschiffs in den Puff, hängt im Maschinenraum rum, fängt sich Viren ein, robbt splitterfasernackt durch Hotelflurs, steigt im Boxkeller unter der Ritze in den Ring, heuert Bodyguards an … Ja, genau: Die Ritze, Bar an der Reeperbahn, laut Internet, „wo das Kiezherz schlägt“. Nur dass Herbst eben nicht im Internet liest, was in solchen Nischen und Ecken passiert, sondern er marschiert rein – in die Bars von Bahia, die Bergdörfer Südfrankreichs, Maschinenräume, auch Pils- und Wurstbrotkneipen –, guckt genau hin. Atmet die Luft ein. Nimmt sich Zeit. Hört zu. Es geht ja nicht um ihn: sondern um das, wovon er uns erzählen wird.
Demut im Reisegepäck
Und danach schreibt er. Allerdings offenbart Herbst als Reporter – der Mann, dem man hier über die Schulter blickt – noch eine weitere ganz spezielle, wesentliche Qualität. Klein und wesentlich: Demut. Das ist der eine Part in dem Package oder Arsenal, das ist das Teil im Reisegepäck des Geschichten erlebenden und schreibenden Hans Herbst, das ist der Part, der bei all den glitzernden Tricks und Rhythmen, dem Witz und Spaß, Sex und Schweiß so gut wie gar nicht auffällt: Demut. Hinter den Stories mag das geschulte Auge etwas davon ahnen, in den Reportagen ist sie omnipräsent. Im Mittelpunkt steht nie der Mann, dessen Ton und Rhythmus so selbstbewusst sind, fest und kräftig wie der Händedruck eines alten Freunds. Im Mittelpunkt stehen die, über die zu berichten ist. Dass er genau hinguckt, ist klar. Wie er hinguckt, das erfahren wir aus den Reportagen.
Der Unterschied mag manchem nichts bedeuten. Es ist nur ein Detail, klein, für mich wesentlich – etwa so wie der Unterschied zwischen Volvo und Vulva.
Matthias Penzel
Dieser Text ist in ähnlicher Form als Nachwort im siebten Band der Hans-Herbst-Edition erschienen: Hans Herbst: Männersachen. Reportagen. Hans-Herbst-Edition VII. Bielefeld: Pendragon-Verlag 2011. 304 Seiten. 19,90 Euro. Weitere Informationen zu Autor und Werk gibt es auf dieser Homepage.