Geschrieben am 4. November 2015 von für Film/Fernsehen, Litmag

Film: Horse Money

HorseMoney08_poster_1425961479Aufruf zum kritischen Erinnern

Doris Wieser über Pedro Costas Dokufiction Horse Money. Ein Film über kapverdische Immigranten in Lissabon.

Seit Kurzem ist der Film „Horse Money“ (Cavalo Dinheiro) des Portugiesen Pedro Costa in deutschen Kinos zu sehen. Es handelt sich um ein komplexes, künstlerisch anspruchsvolles Doku-Drama, das sich dem Zuschauer erst nach mehrmaligem Sehen erschließt; und selbst dann bleiben noch einige Stellen unklar. Besonders außerhalb Portugals, wo den Zuschauern die historischen Hintergründe weniger präsent sind, verlangt der Film nach einem Erklärungsgerüst. Er reiht sich in eine Serie von Lang- und Kurzfilmen Pedro Costas über das Leben kapverdischer Einwanderer im Großraum Lissabon ein. Insbesondere knüpft er an „Colossal Youth“ (Juventude em Marcha) (2006) an, in dem die Figur des Ventura bereits als Protagonist auftritt. In beiden Filmen überschneiden sich Schauspieler und Figur (daher die Gattungsbezeichnung Dokufiktion oder Doku-Drama). Ventura spielt sich quasi selbst und hat zusammen mit der Koprotagonistin Vitalina im Laufe der Dreharbeiten einige der Dialoge geschrieben.

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Kontext: Kapverdische Immigration

Kapverdische Immigration gibt es schon lange in Portugal, sie nahm aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu. Portugal verlor seit Ende der 1950er Jahre Arbeiter an die mitteleuropäischen Länder, allen voran Frankreich, Deutschland, Belgien und Luxemburg, die damals um Gastarbeiter warben. Ein anderer Teil der jungen portugiesischen Männer wurde in den 1960er Jahren als Soldaten eingezogen und nach Angola, Guinea-Bissau und Mosambik in den sogenannten „Kolonialkrieg“ geschickt. So entstand ein Arbeitsmarkt für Einwanderer aus der damaligen portugiesischen Kolonie Kap Verde. Die zumeist aus ländlichen Gegenden stammenden jungen Männer waren großteils schlecht ausgebildet und verdingten sich insbesondere im Großraum Lissabon als Fabrik-, Hafen- und Bauarbeiter. Viele ließen sich in Armutsvierteln („bairros de lata“) beispielswiese im Lissabonner Außenbezirk Amadora nieder, wo sie aus Materialien, die sie von den Baustellen mitbrachten, ihre Hütten und Häuser selbst errichteten. Ventura wohnte bis Mitte der 1990er Jahre einem solchen Viertel (Fontainhas), das dann abgerissen wurde. Die Bewohner wurden in sogenannte Sozialsiedlungen („bairros sociais“) umgesiedelt. Inwiefern diese Maßnahme zu einer besseren Integration der Immigranten beigetragen hat, sei dahingestellt.

horse_moneyRaum-, Zeit- und Handlungsfragmente

„Horse Money“ zeigt Ventura in der Gegenwart in einer Nervenklinik. Er ist alt, von schwerer körperlicher Arbeit und Krankheit gezeichnet, und leidet an einem starken Tremor an den Händen. Während seines Krankenhausaufenthalts trifft er auf Vitalina, die soeben aus den Kapverden angereist ist, um der Beerdigung ihres Mannes Joaquim beizuwohnen, die sie jedoch um drei Tage verpasst, da die portugiesische Botschaft ihr Visum nicht rechtzeitig ausgestellt hat. Ventura und Vitalina sind durch die Figur des Joaquim miteinander auf schicksalhafte Weise verbunden. In achronologischen Flashbacks werden Szenen aus Venturas Vergangenheit gezeigt, wobei unklar bleibt, wie viel davon durch seine Einbildung verzerrt ist. Raum und Zeit sind in nur schwer zu ordnende Erinnerungsfragmente zersplittert. Venturas Schuldgefühle führen dazu, dass ihn die Vergangenheitstrümmer immer wieder in anderer Weise einholen. Am Tag der Nelkenrevolution (25. April 1974), durch die Portugal von einer 40-Jahre währenden Diktatur befreit wurde, kam es zwischen Ventura und Joaquim zu einer Messerstecherei im Lissabonner Jardim da Estrela (der Grund für den Streit bleibt jedoch ungeklärt). An der Revolution beteiligte Soldaten gebieten dem Streit Einhalt und bringen Ventura ins Krankenhaus. Irrtümlicherweise gehen einige Kritiker davon aus (z. B auf kino.de oder filmstarts.de), dass Venturas Kontrahent (Joaquim) bei dem Kampf ums Leben kommt. Das stimmt jedoch nicht, da er in einer Folgeszene erneut auftritt – stets an seinem roten Hemd erkennbar – und vorführt, mit wie vielen Stichen er am seinem nun gelähmten Arm genäht wurde. Ebenso wenig stimmt, dass Ventura an der Nelkenrevolution, die ein von Militärs durchgeführter Putsch war, aktiv beteiligt gewesen ist, wie die erwähnten Kinoportale behaupten.

Spärlich ausgeleuchtete Innenräume, statische Kamera

Pedro Costa hat in den vorangegangenen Filmen eine Ästhetik entwickelt, die in „Horse Money zu ihrem Höhepunkt gelangt. Mit statischer Kamera filmt er vor allem in dürftig ausgeleuchteten Innenräumen. Häufig sind nur die Gesichter oder andere Körperausschnitte in Nahaufnahmen zu sehen. Die dargestellten Räume sind meist nicht real referenzierbar, sondern semantisch aufgeladen und artifiziell. So sieht man Ventura mehrmals durch unterirdische Tunnel irren, in denen er von einem Krankenpfleger aufgespürt und zurückgeführt wird. Sein gestreifter Pyjama gleicht einem Sträflingsanzug; das Krankenhaus und seine eigenen Gedanken werden zu seinem Gefängnis. Besonders deutlich wird dies in der langen, traumartigen Schlusssequenz, in der Ventura in einem Aufzug feststeckt. Neben ihm steht ein bewaffneter Soldat der Revolution in Tarnkleidung und schwarz bemaltem Gesicht. Der Soldat ist Teil seiner schlecht verarbeiteten Erinnerung und seiner Schuldgefühle in Bezug auf die Messerstecherei am Tag der Nelkenrevolution.

Horse_Money-568620203-largeDie Nelkenrevolution 40 Jahre danach: Nur Grund zum Feiern?

Venturas Irrwege führen ihn auch in ein verlassenes Fabrikgebäude. Im Gespräch mit seinem Neffen Benvindo wird deutlich, dass die kapverdianischen Immigranten weder von der Revolution profitierten noch die Hoffnungen auf einen Neuanfang teilten. Nachdem am 11. März 1975 (das Datum wird im Film ohne weitere Erklärung erwähnt) der abgedankte Präsident General Spínola einen Gegenputschversuch durchführte, nahmen die Streiks und Fabrikbesetzungen durch Arbeiter zu. Dass daraufhin – wie im Falle von Benvindos Arbeitgeber – Fabrikbesitzer Reißaus nahmen und die Unternehmen bankrott zurückließen, half den Kapverdiern nicht, sondern stellte sie nur vor neue Probleme.

Insgesamt erweckt der Film einen Eindruck von Verlassenheit und Hoffnungslosigkeit. Die Figuren scheinen sich in einem Niemandsland zu bewegen (Nervenklinik, Korridore, Fahrstühle, verlassene Fabriken etc.), in dem sie keinen persönlichen Kontakt zur einheimischen Bevölkerung haben. Ihr Kontakt mit Portugiesen beschränkt sich auf den administrativen und beruflichen Bereich ihres Lebens. Das in der Vergangenheit liegende Kap Verde scheint unerreichbar. So berichtet Vitalina, dass Venturas Haus zerstört und sein Pferd namens „Dinheiro“ (daher der Titel) von Geiern aufgefressen wurde – ähnlich wie die Immigranten in Portugal von den Geiern des Kapitalismus.

So komplex und dunkel der Film auch sein mag, so faszinierend sind seine eigenwillige Ästhetik und seine Intensität an unausgesprochenen Emotionen. Sein politisches Statement ist unübersehbar. Er weist auf Schattenseiten der portugiesischen Nelkenrevolution hin, die zwar zu Recht als friedlich verlaufene Revolution jedes Jahr gefeiert wird, aber nicht für alle Mitglieder der Gesellschaft etwas Positives gebracht hat. Insofern ist „Horse Money“ ein Aufruf zum kritischen Erinnern.

Doris Wieser

CAVALO DINHEIRO / HORSE MONEY (P 2014, 104 Minuten. Regie und Drehbuch: Pedro Costa. Kamera: Leonardo Simones. Darsteller: Titu Furtado, Ventura, Vitalina Varela, Antonio Santos u.a.)

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