Geschrieben am 3. Mai 2016 von für DVD, Kolumnen und Themen, Litmag

Essay: Markus Pohlmeyer über Edgar Reitzʾ„Heimat“

HEIMAT-KINOKunst, eine deutsche Tragödie.

Gedanken zu Edgar Reitzʾ Meisternarrativ „Heimat“.
Von Markus Pohlmeyer

Aus der einzigartigen Serie „Heimat“ von Edgar Reitz möchte ich einige Aspekte zum Thema Kunst herausgreifen.[1] Heimat 1 umfasst die Enden des Ersten und Zweiten Weltkrieges, angesiedelt in einem Hunsrücker Utopia namens „Schabbach“. Heimat 2, in der Großstadt München, entwirft auf dem Hintergrund der Nachkriegszeit eine Künstlerbiographie – anhand des Werdeganges des Komponisten Herman Simon. Dieser beginnt experimentell, avantgardistisch, alle Klänge scheinen irgendwann tatsächlich technisch übersetzbar, machbar zu sein. Musik wird Technik. Am Ende überlebt nur der Dirigent Hermann Simon, der sich den großen Meistern Mozart, Schumann, Beethoven widmet: statt ein revolutionärer Produzent, wie er in München begann, ist Hermann nun Vermittler von Musik. Seine Künstlerfreunde sterben dramatisch oder enden im Zirkus oder in der Terrorismusszene.

Ansgar beispielsweise verzichtet darauf, Dichter zu sein – auch als Protest gegen seine Eltern: die da sind ein religiös fanatischer Vater, der lieber betet, als seinen Sohn zu begrüßen, und eine auf die Karriere ihres Sohnes fixierte Mutter. In unbarmherziger Härte sieht Ansgar immer noch die überall existierenden Verstrickungen in das Dritte Reich. Die Ironie des Aufbruchs: der studentische, möchte-gern-so-revolutionäre Künstlerkreis trifft sich gerne und genüsslich in einer Nazi-Villa, die ursprünglich einer jüdischen Familie entrissen wurde. Heimat 2 ist auch das Zerbrechen der Nachkriegsgeneration an einer verweigerten Vergangenheitsbewältigung. „Der junge hochbegabte Orchesterleiter Herbert von Karajan tritt der NSDAP bei, um seine Karriere zu beschleunigen.“[2] Ein Schämen derer, die nichts verbrochen, für die, die alles zerstört, vernichtet haben, aber sich nicht schämen. Kunst als der Versuch, in den städtischen und politischen Ruinen Deutschlands Menschsein neu zu (er)finden. Ansgar, in einer idealen, fast überirdischen Liebesbeziehung zu Evelyne, wird von einer Straßenbahn zu Tode geschleift: wie Hektor um Troja geschliffen, an Achills Streitwagen gebunden.[3]

Der Philosoph Alex, immer pleite, immer hungrig, den Abschied des Patriarchates verkündend, verreckt elendig an seinem Alkoholmissbrauch, immer die Welt kommentierend, aber nie in ihr angekommen. Wie ein Kontrapunkt dazu liest sich das Ergebnis eines Ausschusses zur Entnazifizierung der Heidelberger Universität in der Sache Heidegger: „Der Ausschuss spricht sich für seine vorzeitige Emeritierung aus, bei Beibehaltung der vollen Professorenbezüge. So stehen in der Stunde null für den Philosophen die Dinge gut.“ [4] Im Weiteren zeigt Sidonie Kellerer Heideggers Legendenbildung und Karriere auf. Das Abstract ihres Aufsatzes fasst zusammen: dass Heidegger  sich „[…] bis Kriegsende nicht wesentlich von der NS-Ideologie entfernt hat. Seine seit letztem Jahr veröffentlichen persönlichen Aufzeichnungen (die Schwarzen Hefte) belegen zudem seinen Antisemitismus über das bisher bekannte Maß hinaus[.]“[5]

Reinhard, Drehbuchautor, der sich auf die Reise macht, um ernsthaft die Vergangenheit zu erkundigen, stirbt symbolisch einen Tod in Venedig, frei nach Thomas Mann und Ovid: Wie Narziss versinkt er in den Fluten (des Ammersees). Unauffindbar. „Der Erzähler braucht den Tod mancher, gerade ›herzensnaher‹ Figuren, um deutlich zu machen, dass sich das Leben selbst von erfundenen Figuren Menschen eben nicht in »unermesslicher Weite« ausdehnt.“[6] Im Gegensatz zu mancher Telenovela oder SF-Geschichte, in der Auferstehungspraktiken oder -Maschinen[7] alles noch heute Unmögliche technisch-medizinisch möglich machen: Die Einmaligkeit des Todes wird inflationär in eine Wiederkehr des/der Gleichen transformiert. Oder etwas klischeehaft, verklärend: die wirklichen Genies erleben die Gnade eines frühen Todes, bevor sie bürgerlich werden können. Goethe hat beides verbunden.

Juan, ein Don Giovanni, der alles kann und es zu nichts bringt, Opfer seiner Genialität, wird am Ende Zirkusartist. Und die Dichterin Helga radikalisiert sich, ideologisch verblendet, ohne Scheu vor Gewaltanwendung. Sie organisiere am Drehort eines Freundes, so Thomas Koebner, z.B. „den widerrechtlichen Abtransport der Kamera, die in ihrem anti-autoritär angelegten Kinderladen für Dokumentaraufnahmen, also zu einem »gesellschaftlich viel wichtigeren Zweck« gebraucht wird. Edgar Reitz greift mit diesen Episoden auf reale Vorgänge »kollektiven Terrors« zurück, die sich während der ersten Drehtage des Projektes Cardillac in Berlin ereignet haben, Ulrike Meinhof hatte seinerzeit mit ihrer Truppe die Kamera entwendet, um Szenen ihres Filmes Bambule zu drehen.“[8]

In Heimat 3 tritt nun nicht mehr der aktiv Kunstschaffende auf, sondern der Kunstsammler – in Gestalt von Hermanns Bruder Ernst Simon. Dieser macht nach dem Krieg Profit mit dem Ausverkauf der alten Welt (von Heimat 1), nach der Wende entdeckt er den Osten, wo er ungeahnte Kunstschätze zum Spottpreis vermutet und sich auch eine riesige Sammlung von Gemälden anlegt, gewissermaßen sein Nibelungenhort, eingelassen in einer Höhle, deren Hochsicherheitstür mit einer Fernbedienung und den magischen Worten ‚Sesam öffne dich!‘ sich auftut. Die Zeit nach der Wende ist die Zeit der Plünderer: so geht auch ein Firmenvernichter im Lande um. Aber es entspannt sich eine wunderschöne Vater-Sohn-Geschichte zwischen Ernst und Matko. Bei einem Wettrennen mit Flugzeug und Moped lässt Ernst Matko absichtlich gewinnen. Als erster am Ziel lässt er nämlich sein Flugzeug kurz fast bis zum Bodenkontakt sinken und startet wieder durch, damit der Junge gewinnen kann. So wird später Ernst seine Beziehungen beschreiben, nur kurze Bodenkontakte, aber er hoffe, dass daraus vielleicht ein Sohn oder Tochter entstanden sei. Nach seinem tragischen Tod – man könnte meinen aus Resignation, weil ihm die Gemeinde die Baugenehmigung für sein Museumsprojekt aus Naturschutzgründen verweigert, aber hintergründig geht es um Eifersucht und darum, dass sich ja nichts verändern dürfe, während das Land nur so von Autobahnen durchzogen scheint und es die Wende gab – wird Matko, die personifizierte Unschuld, aber möglicher Millionenerbe, in ein Netz von Neid, Intrigen und Familienzwist verstrickt, konfrontiert mit Hass und Fremdenfeindlichkeit (Ausnahme: Hermann). Der Flieger Ernst ist Daedalus, der seinen Sohn Ikarus verloren: an der Stelle des Flugzeugabsturzes wird Matko sich mit ausgebreiteten Armen in den Tod stürzen: „Eine Insertschrift teilt das verspätete Ergebnis des Bluttests mit: Matko gehörte nicht zu den Simons.“[9] Aber er war ein Sohn im Geiste – in dieser spiegelverkehrten Ikarus-Gesichte: „At pater infelix, nec iam pater, »Icare« dixit […]“[10]. Bevor Matko stirbt, benutzt er eine Fähre über den Rhein: „Die Jungfrau sprach: »da gehet« /Ein Schifflein auf dem Rhein, /Der in dem Schifflein stehet, /Der soll mein Liebster sein./Mein Herz wird mir so munter, /Er muß mein Liebster sein! –«/Da lehnt sie sich hinunter /Und stürzet in den Rhein.“[11]

Die Verschiebungen in der Rezeption bestimmter Prätext und Archetypen in „Heimat“ ist eine Transformation und eine epochale Übersetzung zugleich: Ansgar Tod geschieht zufällig, durch ein Moment der Technik, geradezu banal, wenn dies nicht als ein Einbruch des Schrecklichen in das Alltägliche verstanden werden kann – keine Ausnahmesituation des Krieges, kein Sterben in einem Geflecht aus Heroismus und Ehre. Irgendwie Alltagsmenschen. Und Ernst ist auch kein Daedalus, sondern Benutzer, Konsument vorhandener Technik. Das Leben, die Liebe, die Politik scheinen in Heimat 1-3 an den Künstlern vorbeizugehen. Und ist Ausdruck einer kulturellen Katastrophe: „Einem unbestochenen Blick zeigte sich immer mehr, daß Hitler nicht dem Abschaum, sondern den besten Kräften des deutschen Volkes seinen Erfolg verdankte. Dazu gehörten junge Idealisten wie Günter Grass, der bis zum Kriegsende an Hitler glaubte und erst als Achtzigjähriger bekannte, 1944/45 in der Waffen-SS gedient zu haben.“[12]

Markus Pohlmeyer

[1] Vgl. zu Heimat 1 auch Neuer Deutscher Film. Stilepochen des Films VI, hg. v. N. Grob u.a., Stuttgart 2012, 338-345.
[2] GEO Epoche, Nr. 58: Deutschland unter dem Hakenkreuz, Teil 2 1937-1939, 93 (Schriftbild von mir verändert.).
[3] Vgl. dazu Homer: Ilias, XIV, 14 ff.
[4] S. Kellerer: Heideggers Verborgene Wahrheiten und die »Schwarzen Hefte«, in: Die Philosophie und der Nationalsozialismus, Philosophie Magazin Sonderausgabe 03, 70-73, hier 70.
[5] Kellerer: Wahrheiten (s. Anm. 4), 70.
[6] T. Koebner: Edgar Reitz: Chronist deutscher Sehnsucht. Eine Biographie, Stuttgart 2015, 206.
[7] Ein Grundproblem z.B. in der Neuauflage der Serie Battlestar Galactica.
[8] Koebner: Reitz (s. Anm. 6),195.
[9] Koebner: Reitz (s. Anm. 6), 227.
[10] Ovid: Metamorphoses, hg. v. E. Hübner, Stuttgart 2014, 91 (v. 231). Übers. von mir: „Aber der unglückliche Vater, und schon nicht mehr Vater, rief: ‚Ikarus‘ […]“ , der zu nahe an die Sonne herangeflogen war, so dass das Wachs der Flügel schmolz. Ovid charakterisiert Daedalus folgendermaßen (Met., aaO, v. 188 f.: „[…] et ignotas animum dimittit in artes/ naturamque novat.“ (Übers. MP: „… und er vertiefte sein Genie in unbekannter Kunst und schuf eine zweite Natur/erneuerte die Natur.“)
[11] C. Brentano: [ZU BACHARACH AM RHEINE], in: Ders.: Gedichte. Erzählungen. Briefe, hg. v. H. M. Enzensberger, Frankfurt am Main 1981, 61.
[12] H. Kurzke: Die kürzeste Geschichte der deutschen Literatur und andere Essays, München 2010, 75 f.

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