Geschrieben am 24. Februar 2005 von für Litmag

Das Wiener Tagebuch und sein heutiges Echo

Eine gute Schreibstube

Von Carl-Wilhelm Macke

Sie haben auf ihre Art alle einen guten Namen auf dem aktuellen Literaturmarkt: Martin Pollack, Erich Hackl, Richard Swartz, Claudio Magris, Ryszard Kapuscinski. Sie entstammen verschiedenen Generationen. Sie schreiben in verschiedenen Sprachen. Ihre Bücher sind unterschiedlichen Themen gewidmet. Wenig scheint sie zu verbinden. Doch es gibt eine Gemeinsamkeit, eine für andere, für die Leser und Kritiker nicht wahrnehmbare gemeinsame Wurzel. Sie freizulegen, bedarf es einen Umwegs, einer historischen Recherche im Archiv untergegangener Zeitschriften. Man muss beginnen mit der Erinnerung an einen heute, in Deutschland allemal, vergessenen Publizisten und Politiker. Die ihn noch persönlich gekannt haben, die mit ihm befreundet gewesen sind, die mit ihm gestritten haben, sprachen stets mit Respekt von ihm. Erich Fried zum Beispiel nannte ihn „einen Fragenden, einen Menschen voll Trauer und Hoffnung“. Zuletzt brachte er, so Fried in einem Gedicht, „keine fertigen Antworten mehr/ die nicht stimmen/ sondern unfertige Fragen/ die immer notwendiger wurden“. Für Jean Améry war er ein „Aristokrat der Erscheinung, des Geistes und des Gemüts“. Der Marxist Hans Mayer und die liberale Marion Gräfin Dönhoff waren fasziniert von seiner „umfassenden Bildung, seinem dialektischen Denken, seiner Lauterkeit“. Gibt es für einen unabhängigen Geist, dem Marx und Kafka, Engels und Beckett, Luxemburg und Joyce die Portalfiguren seines Denkens waren, ein größeres Lob als den tiefen Hass von Walter Ulbricht und das Verdammungsurteil der kommunistischen Iswestija aus Moskau, nach dem ein Mann wie Fischer „auf den Misthaufen der Geschichte“ gehöre?

Ernst Fischer – ein Vergessener

Mit dem Namen Ernst Fischer, dem diese lobenden Würdigungen und kalten Verachtungen galten, wusste man in der kritischen Öffentlichkeit in den Jahren vor und unmittelbar nach 1968 vielleicht noch etwas anzufangen. Als Kommunist und bis 1969 Mitglied in Führungsgremien der KPÖ wurde Fischer, der sich leidenschaftlich gegen die sowjetische Intervention in Ungarn und vor allem in der CSSR einsetzte, mit Vorliebe als Kronzeuge wider den Marxismus zitiert. Heute spricht weder rechts noch links jemand mehr von Ernst Fischer. Er ist ein Vergessener – nicht der Einzige aus dieser Generation, die sich von politischen Utopien und Idealen leiten ließ, an die zu erinnern heute immer peinlicher zu werden scheint. Fischer, machen wir es kurz, kannte noch so bedeutende deutschsprachige Schriftsteller wie Elias Canetti, Hermann Broch oder Stefan Zweig. Und als Mitglied der österreichischen Kommunisten verbrachte er zusammen mit heute alles andere als geachteten Genossen wie Herbert Wehner, Walter Ulbricht, Palmiero Togliatti seine Exilzeit im stalinistischen Moskau. Fischer war, auch das ist unbestritten, nicht gerade ein Gegner Stalins. Später, als er längst zum vehementen Kritiker des Stalinismus geworden war, rechtfertigte er noch einmal klar sein damaliges Engagement für die Komintern: „Ich habe damals in Moskau gelebt. Es gab für mich nur den einen Gedanken: Hitler muß geschlagen werden, und Hitler wird nur durch die Sowjetunion geschlagen. Alles andere war zweitrangig. Wenn ich damals gewußt hätte, was ich heute weiß – ich hätte den Kampf gegen Hitler ebenso geführt oder vielleicht Selbstmord begangen. Es gab sonst keine Alternative.“ Was aber Fischer immerhin von anderen ehemaligen Stalinisten seiner Generation unterscheidet, ist die Radikalität, mit der er in den letzten Jahren seines Lebens den Prozess „gegen sich selbst“ eröffnet hat: „Aus der Tiefe meiner Erinnerung, aus der Trauer um all das Verlorene, um den, der ich war und nicht mehr bin und nie mehr sein werde, ruft immer wieder ein fremdes Ich mir selbst, dem Fremden zu: Was war da mit mir geschehen?“

Das „Wiener Tagebuch“ und seine Autoren

Erst 1968 mit dem „Prager Frühling“ löste sich Fischer aus seinen stalinistischen Verstrickungen. Unter seiner Leitung löste sich das „Tagebuch“, eine der KPÖ nahe stehende kulturpolitische Zeitschrift, in den sechziger Jahren immer mehr von der offiziellen Parteilinie. Bis zum Ende der Achtziger existierte dann diese Zeitschrift als „Wiener Tagebuch“ weiter. Das Netz seiner Korrespondenten aus fast allen westlichen Hauptstädten bis hinein in die Oppositionsbewegungen der damaligen „realsozialistischen Länder“ war beeindruckend. Zuerst waren es vornehmlich kommunistische Stimmen aus Italien, Frankreich und Spanien, die im „Wiener Tagebuch“ eine Tribüne fanden. Später dann kamen andere, jüngere Autoren als feste oder freie Mitarbeiter hinzu. Martin Pollack redigierte eine Zeit lang das „Wiener Tagebuch“ und entdeckte als erster im deutschsprachigen Raum die Reportagen des polnischen Reporters Ryszard Kapuscinski, dessen Übersetzer er bis heute geblieben ist. Nach einer Zwischenstation als Österreich-Korrespondent des SPIEGEL begann Pollack dann eigene umfangreiche Recherchen zu veröffentlichen („Anklage Vatermord“ und „Der Tote im Bunker“, beide erschienen bei Zsolnay). Der Hispanist Erich Hackl kam etwas später zum Tagebuch und mit ihm wurde der Uruguayer Eduardo Galeano ein regelmäßiger Autor in dieser kleinen feinen wienerischen Kulturzeitschrift. Erste kleinere Reportagen von Hackl erschienen an diesem Ort, aus denen dann später umfangreichere Arbeiten wie „Abschied von Sidonie“ und „Auroras Anlaß“ wurden. Ein Echo jener Zeit beim „Wiener Tagebuch“ ist auch vernehmbar im jüngsten Essayband Anprobieren eines Vaters“ (alle Titel erschienen bei Diogenes). Karl Magnus Gauss, Herausgeber der renommierten österreichischen Literaturzeitschrift Literatur und Kritik“ veröffentlichte im Wiener Tagebuch“ seine ersten größeren Entdeckungsreisen in die vergessene Literatur Ost- und Mitteleuropas. Auch von Claudio Magris erschienen schon früh längere Essays über die Habsburger Kultur und deren Verzweigungen in die zeitgenössische italienische Literatur. Richard Swartz, damals Osteuropa-Korrespondent der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter“ kommentierte im Tagebuch“ das sich jahrelang hinziehende Siechtum der „realsozialistischen Gesellschaften“. Liest man die Erinnerungsgeschichten in seinem soeben bei Hanser erschienenen Adressbuch“, dann erhält man noch eine Ahnung von jener Zeit, in der ähnlich geschriebene Beiträge auch regelmäßig im Wiener Tagebuch“ veröffentlicht wurden. Im deutschsprachigen Raum gibt es vielleicht nur wenige Zeitschriftenprojekte, die mit so bescheidenen Mitteln und einer so geringen Auflage ein so nachhaltiges politisches, vor allem aber literarisches Echo hatten wie das Wiener Tagebuch. Für die Autoren des Tagebuchs war die Osterweiterung Europas bereits eine Realität, als einige der sie heute beschwörenden Politiker und Kommentatoren noch für Schülerzeitungen schrieben.

Carl Wilhelm Macke