Als Letzter auf der Bank
– Stefan Beuse berichtet von den Erhabenheiten und Fallstricken der Welt. Diesmal: Vorsicht, Herr Vorstandsvorsitzender!
Alle Geschichten brauchen einen Motor. Das gilt auch für Lebensgeschichten. Der klassische dramatische Motor heißt: Konflikt. Ein Konflikt entsteht, wenn Menschen, die irgendwie miteinander verbunden oder aufeinander angewiesen sind, unterschiedliche Dinge wollen. Er will im Urlaub bergwandern, sie will am Strand liegen: Ein harmloser Interessenkonflikt. Spannend wird es, wenn er die dunkle Seite der Macht besiegen will, diese Position aber zufällig von einem nahen Familienangehörigen bekleidet wird. Dann kann daraus eine Geschichte werden.
Natürlich gibt es auch Konflikte innerhalb einer einzelnen Person. Sie entstehen, wenn die Person nicht weiß, was sie eigentlich will und deshalb Dinge macht, die weit von dem entfernt sind, was sie eigentlich tun sollte. Deshalb, das wissen Romantiker wie Mystiker, Philosophen wie Mondkalenderverkäufer seit Menschengedenken, gilt: Werde, der du bist.
Vorher jedoch muss man natürlich rausfinden, wer man ist, was leichter gesagt als getan ist. Aber wir haben schließlich ein Leben lang Zeit dafür, und diese Zeit sollten wir nicht damit vertun, Doodle Jump zu spielen oder den Preis für ein Kilo Kartoffeln bei Aldi und Lidl zu vergleichen.
Ein wichtiger Schritt zur Selbsterkenntnis ist: zu begreifen, warum wir handeln, wie wir handeln. Ein bekannter Schauspieler, dessen Biografie ich schreiben sollte, erzählte mir, dass seine Eltern Gaukler gewesen seien. Sie haben Kunststücke vorgeführt und ihn für die Dauer ihres Auftritts im Kinderwagen unter die Bühne geschoben. Von da an wollte der Junge auf der Bühne stehen. Er wollte gesehen werden, nicht in die Dunkelheit abgeschoben. Er wollte bei seinen Eltern sein, im Licht, und er wollte Applaus. Das war sein Traum. Das war sein Motor. Das ist der Grund, warum aus dem Jungen einer der erfolgreichsten deutschen Schauspieler geworden ist.
Kindheitstraumata lassen einen verrückte Dinge tun. Ich zum Beispiel trainiere in meiner Freizeit eine Handballmannschaft. Also, eher eine Damenschaft: zwanzig pubertierende Mädchen. Warum tue ich das? Ich habe nicht die geringste Ahnung von Handball, ich interessiere mich null für Sport; es gibt nichts, was ich mehr hasse als das Vereinswesen, und allein die Vorstellung, vor einer größeren Gruppe zu stehen und in Kasernenhoflautstärke zu dozieren, lässt mir kalten Schweiß ausbrechen. Außerdem habe ich ein Autoritätsproblem. Sowohl mit Autoritäten, als auch damit, eine zu sein.
Trotzdem stehe ich jedes Wochenende bei Punktspielen am Spielfeldrand, brülle wie ein Bierkutscher und klatsche bei jedem Tor so begeistert in die Hände, dass ich noch Stunden später meine Finger nicht mehr spüre.
Ich tue das, weil ich früher klein, dick und bebrillt war. Weil ich so viel Angst vor dem Sportunterricht hatte, dass ich die ganze Nacht nicht schlafen konnte. Weil ich bei Mannschaftswahlen immer als Letzter auf der Bank saß und mir die „Hier! Hier!“-Rufe der Ballspiel-Idioten bis heute im Ohr klingen. Das aufgeregte Quietschen von Sportschuhsohlen auf Hallenböden. Der Geruch von Talkumpulver und Kinderschweiß auf blauen genoppten Turnmatten. Das Gehöhne und Gelache in der Umkleidekabine. Das Laute, Obszöne, Menschenverachtende; das Stumpfe, Dumme, Mitläuferhafte, das Platzhirschgehabe, überhaupt: die verhängnisvolle Kombination aus Dummdreistigkeit und Machtanspruch, die, ewiges Kennzeichen wahrer Mittelmäßigkeit, bis heute nicht nur in der Kommunalpolitik, in Sport- und Schrebergartenvereinen zu Hause ist, sondern zunehmend sogar den Kulturbetrieb durchdringt – ein Bereich, an dessen Schaltstellen Lauheit etwa so angebracht ist wie Heidi Klum als Vorsitzende des Philosophischen Quartetts.
Ich mache das alles, weil ich noch nicht fertig bin mit diesen Leuten, deren Brutstätte eindeutig der Sportunterricht ist: Es gibt noch eine Aufgabe zu erledigen. And miles to go before I sleep. Das ist wie in Magnolia, die Stelle, an der die Frösche vom Himmel regnen und alle Figuren eine kollektive Katharsis erleben. Zusammen singen sie die seither zum Klassiker gewordene Aimee-Mann-Zeile „It’s not going to stop till you wise up“: Du kannst nicht weglaufen vor dem, was du zu lernen hast. Na ja, du kannst schon, aber dann kommt es immer dicker, und wenn du die Zeichen hartnäckig ignorierst, bleibt den Zeichen nichts anderes mehr übrig, als dir irgendwann mit der Keule ins Gesicht zu schlagen. Das würde ich gern verhindern, also stelle ich mich meinen Ängsten. In Bezug auf die Seele nämlich sind Ängste so etwas wie Zahnschmerzen: Man muss auf sie hören, etwas unternehmen, bevor es unerträglich wird. It’s not going to stop till you wise up.
Wenn Sie also zufällig mal bei einem Handballspiel der weiblichen C-Jugend sind und jemanden an der Seitenlinie herumspringen sehen wie einen Derwisch, Dinge rufend, die dem Index jugendgefährdender Schriften entnommen sein könnten, dann hüten Sie sich besser davor, zu lachen, wenn unsere Torhüterin einen vermeintlich leichten Ball durchrutschen lässt und dabei eine vielleicht etwas unglückliche Figur macht. Denn wenn Sie lachen, auf diese dummdreist-hämisch-vernagelte Art, die ich aus tausenden von Arten heraushöre, weiß ich, dass Sie einer von denen sind, die früher mit nassen Handtüchern den Klassenschwächling verprügelt haben – und es mittlerweile wahrscheinlich zum Vorstandsvorsitzenden des Vereins Smeierei, Bezirksdirektion Oer-Erkenschwick-Südwest gebracht haben.
Vielleicht sind Sie einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Aber Sie sind der Grund, warum ich Handballtrainer geworden bin. Sie sind meine Chance, endlich einen Karma-Knoten zu lösen. Nennen Sie es Überreaktion. Aber ich kann nichts dafür. Jahrzehntelang angestaute Trauma-Energie, verstehen Sie? Es ist stärker als ich.
Ach ja, und sagen Sie bitte nie, nie wieder in eine RTL-Kamera, Sie seien „schockiert“, „fassungslos“ oder „entsetzt“, weil Ihr Nachbar, der „immer so ein netter, unauffälliger Kerl war“, siebzehn Mitschüler mit der Machete in Stücke gehauen hat. Sagen Sie nie wieder, Sie hätten „keine Worte“, wenn Ihnen nicht mal die allerdümmsten Worte zu peinlich sind. Was glauben Sie denn, wozu die Leute fähig sind, die Ihnen in der Schlange vor der Supermarktkasse ganz leicht und wie zufällig den Einkaufswagen von hinten gegen die Beine schieben? Was glauben Sie, was geschieht, wenn bei denen der Korken rausfliegt? Wenn ab morgen Krieg wäre und jemand sagt: Jetzt darfst du. Dann wäre all das, was bisher von einem relativ stabilen Gewissenskonflikt verschlossen bliebe, plötzlich erlaubt. Ihr Nachbar hätte die Genehmigung, Ihnen an der Supermarktkasse ein Loch in den Bauch zu schießen, und Sie können nur noch hoffen, dass Ihr Vereinswimpel dann an der richtigen Stelle sitzt.
Nichts bleibt ungesühnt, Herr Vorstandsvorsitzender. Jedes Gefühl nimmt irgendwann Gestalt an. Es hat gar keine andere Wahl. Also überlegen Sie sich gut, wen Sie auf der Bank sitzen lassen und wen Sie besser ganz schnell wählen. Es könnte die wichtigste Entscheidung Ihres Lebens sein.
Stefan Beuse
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