Geschrieben am 1. August 2017 von für Litmag, SEXMAG, Specials

Christian Platz: Lettern auf Toilettenpapier

Sherin-Blue LeshLettern auf Toilettenpapier – oder
Donatien Alphonse François ist kein Safeword

Jahrelang hat er in Gefängnissen gesessen. Kein Gerichtsurteil hatte ihn hinter Gitter gebracht, sondern ein «lettre de cachet» aus dem Umfeld des französischen Königshauses. In seinen verschiedenen Zellen hat er geschrieben. Wie ein Besessener, in beinahe mikroskopisch kleinen Lettern, oft auf Toilettenpapier.

Von Christian Platz, einem falschen katholischen Priester, von dem sie sich einölen lassen dürfen – aber nicht müssen

Er hat jenes für seine Epoche Unsagbare, Undenkbare aufgeschrieben; sexuelle Episoden ohne Ende, Passionen, von denen er die meisten selber nie ausgelebt hat, damals, als eine schwule Affäre, ein Arschfick, ein Blowjob (mit oder ohne Schlucken) – und erst recht ein Neunundsechziger – einen Menschen aufs Schafott bringen konnten.

Dem Schafott ist er entflohen, obwohl viele ihn gerne als Hauptakteur einer öffentlichen Hinrichtung, als deren Opfer eben, gesehen hätten.

Einmal haben sie ihn im Abbild verbrannt, oft musste er fliehen, weil er sich hier von einem Diener fröhlich sodomisieren ließ, dort mit zwei Nutten gleichzeitig eine Nummer schob – und sich, wieder an einem anderen Ort, von einer Mamsell mit prächtigem Hintern in die Nase furzen ließ. Dinge, für die es unter strenger katholischer Krone bloß eine denkbare Strafe gab: Tod.

Weil er einen Adelstitel trug, war ihm der Richtplatz erspart geblieben. Das fromme Königshaus versorgte ihn mittels eines «lettre de cachet», einem typischen Instrument unmenschlicher Feudalherrschaft.

Elf Jahre am Stück war er inhaftiert gewesen. Eine Zeit lang in jener berühmten Bastille, die am 14. Juli 1789 gefallen ist. Doch am Sturmtag war er nicht mehr dort.

Er war verlegt worden, weil er zuweilen aus dem kleinen Fensterchen seiner Zelle hinauszuschreien pflegte: „Die bringen uns hier alle um!“

(Und die Seelen, ja die Seelen haben sie dort ganz gewiss ermordet.)

Nichtsdestotrotz war es die Revolution, die den berüchtigten Marquis de Sade, Autor von „Justine ou les Malheurs de la vertu“ (von dem es mehrere Versionen gibt, die sich stark unterscheiden), „Les 120 journées de Sodome, ou l’École du libertinage“ und diversen anderen Werken, in die Freiheit entließ. Endlich.

Unendlich viele Zeilen hatte er in Haft geschrieben. In mikroskopischer Schrift, auf Toilettenpapier. Vieles davon ist bedauerlicherweise für immer verloren gegangen.

Sogleich ließ er ihn fahren, seinen Adelstitel, nannte sich fortan Citoyen – und sprach sich öffentlich für die Französische Revolution und deren Protagonisten aus.

Im Privaten hegte der Bürger Sade allerdings andere, durchaus aufrührerische Ideen, auch aus der Sicht der Jakobinischen Revolution. Er war ein radikaler Demokrat, wollte, dass alle Menschen, Frauen und Männer, in politischen Dingen abstimmen dürfen.

Zudem war er gegen die Todesstrafe. Ausgerechnet er, der Beschreiber unzähliger Lustmorde. Tatsächlich zog er den Mord aus Lust dem staatlich verordneten vor.

Er gestand dem Töten im sexuellen Rausch, dem ultimativen Akt einer egomanischen Freiheit also, weitaus mehr Wert zu, als jenem staatlich verordneten, das er verabscheute.

Er verabscheute jede staatliche Obrigkeit, fast so sehr, wie er das Christentum hasste. Donatien Alphonse François de Sade war nämlich ein guter Mann. Besessen vom Sex (wer ist es nicht?), was er laut in eine Welt hinauszurufen pflegte, die einer gruseligen Doppelmoral frönte, deren Kehrseite nichts anderes als ein Eselsarsch war, vergoldet zwar, jedoch fortwährend kackend.

Und eine veritable Gülle war diese Kacke, ordentlich vergoldet zwar, doch würgte an ihr die ganze christliche Welt, ob katholisch oder protestantisch.

Es dauerte nicht lange bis die fanatischen Revolutionäre die politische Laxheit des Citoyen Sade erkannten, begnadigte er doch – in einem Amt als Revolutionsrichter, das er für kurze Zeit innehatte – alle zum Tode verurteilten, die ihm vorgeführt wurden.

Zudem erinnerte man sich wieder an seine schönen pornographischen Publikationen. Deshalb enthob man ihn aller revolutionären Ämter, stellte ihn unter Beobachtung. Die Protagonisten der französischen Revolution waren halt auch eine erbärmlich prüde Bande.

Und noch prüder gerierte sich in der Öffentlichkeit ein großer Mann, der privat ja außerordentlich gerne kopulierte, dies gewiss auch per fas nefandum (wer möchte es ihm verübeln?), Napoleon nämlich.

Der kleine Korse ließ D.A.F., kaum an die Macht gekommen, in die Irrenanstalt einweisen. Wieder ohne wirkliche Rechtsgrundlage, wieder mit einem lettre de cachet, jenem typischen Instrument feudaler Herrschaft und Niedertracht.

Und diesmal gab es für das Wegsperren des Autors genau einen Grund – sein Werk.

Das Werk, ja das Werk, teilweise eben auf Toilettenpapier verfasst, was hat es die Welt nicht beschäftigt und bewegt, jenes teuflische Werk, jene Kapitel, die uns in die Höllenkreise des Fleisches, der Scheiße, des Bluts eintauchen lassen. Die Zensoren haben sie gefüttert, diese Schriften, die Moralverbieger, die Philosophen und die Psychologen sowieso.

Lange Zeit war das Sad’sche Werk professionellen Lesern vorbehalten (wozu damals natürlich nur sehr wenige Damen zählten, schließlich musste man die Weiber vor solchen Inhalten behüten, wenn man sie nicht gerade blasen ließ oder von hinten bumste) – und einigen Sammlern, Freigeistern, die sowohl Literatur schätzten, welche die Schwellkörper aktiviert, aber auch transgressiver sexueller Provokation einiges abgewinnen konnten, jenen tiefen Höllenkreisen der Lust, jener surrealistischen Anti-Pornographie.

Und unser lieber D.A.F. war ja durchaus auf beiden Seiten aktiv.

Die Werke des Göttlichen Marquis, wie ihn später die Surrealisten taufen sollten, enthalten beides, in reichem Masse – und oft genug in Form eines hochkritischen Amalgams, sexuelles Nitroglyzerin, meine Damen (und Herren).

Diese Romane, die lange Monologe beinhalten, die sich um die absolute Negierung der christlichen Moral drehen, zugunsten einer wilden, ungezügelten Natur, präsentieren Unmengen an erotischen Szenen, auf dem Hintergrund einer seltsamen neurotischen Mathematik, die alles durch vier teilbar haben muss.

Es sind theatrale Inszenierungen ausschweifender sexueller Passionen, die in diesen Seiten nisten. Da werden fröhliche Schweinereien geschildert, die heute in jedem normalen Porno vorkommen, solche, die nur in der Nischenpornographie gezeigt werden – und dann kommen jene Akte, die für die meisten Menschen, wenn sie uns ihre öffentlichkeitserprobte Tagseite zeigen jedenfalls, ganz und gar untolerierbar sind: Erzwungene Sexualakte, Kotfressereien, Folter, Erniedrigung, Mord. Seitenlang, kühl, fast mechanistisch geschildert, mit einer leisen Vergnügtheit im Subtext.

Dazu kommen unzählige herrliche Blasphemien: Schändungen heiligster katholischer Utensilien und Ämter sind hier à discrétion zu haben, sowie eine echte, tiefempfundene Begeisterung für hübsche Ärsche und das Ficken derselben, die immer wieder wie Sonnenstrahlen aus den Texten leuchtet, wer möchte letztere Vergnügungen dem Autor verübeln.

In biografischer Hinsicht ist der Fall klar. Unser Marquis hat den Lüsten gefrönt, aber bloß bis in den Bereich der heutigen – legalen – Nischenpornographie hinein.

Allerdings hat seine Epoche für derart unschuldige Vergnügungen furchtbare Körperstrafen und die Todesstrafe vorgesehen. Fürwahr eine gefährliche Konstellation für unseren mutigen Protagonisten.

Die mörderischen Szenen, die Vergewaltigungen und Nötigungen junger Frauen, meist durch mächtige Männer aus Politik, Adel und Kirche, waren Gedankenspiel, Hassgedanken aus dem Knast – und sie waren Karikaturen der Sexualität der Adelsgesellschaft des 18. Jahrhunderts, wie sie hinter dem Vorhang der Doppelmoral, gewirkt aus Christusarschkriecherei und ausgetüfteltem Verhaltenskodex, real gelebt wurde.

Neuere Forschungen haben ergeben, dass etwa jenes fröhliche Kloster, in dem Justine und drei andere Damen (also insgesamt vier) von vier (!) lebenslustigen Mönchen in allerlei ausufernde Orgien einbezogen ergeben, auf tatsächliche Geschehnisse in italienischen Klöstern jener Zeit hinweisen.

In der ausführlichsten Version des Romans (zehn Bände) hat das fröhliche Kloster übrigens vier Türme, die jeweils vier Damenquartette beherbergen, die Ladies kennen aber jeweils nur ihre drei Genossinnen, die anderen drei Teams treffen sie nie. Vier mal vier Ladies für vier versaute Mönche also. Gute alte Sad’sche Mathematik.

Lustig ist ja, dass es in Justine jene andere moralische Falltür gibt. Die beiden verwaisten Schwestern Justine und Juliette, gehen in diesem Epos ja getrennte Wege, Justine wählt den tugendhaften, jesusverliebten, Juliette das Laster, ohne Netz und (doppelten) Boden.

Das Resultat, Juliette eilt von einem gesellschaftlichen Erfolg zum nächsten. Gleichzeitig scheint ihre ausschweifende Sexualität immer blutleerer zu werden, immer körperloser, bis das Orgienpersonal schemenhaft wird. Schatten an der Wand.

Justine fällt hingegen einem Wüstling nach dem anderen in die Hände – und wird dazu genötigt alle Marotten und Passionen der mächtigen Herren und Damen zu erdulden, alles zu tun, was die Sexgarde aus der Oberschicht von ihr verlangt. Dabei hat jeder Akt etwas Singuläres, durch den Protest, den Widerstand, der gebrochen wird.

Und mit der Zeit beschleicht die Leser das Gefühl, dass Justine die Vorgänge verstohlen genießt, dass sie auf der submissiven Seite der Sexwelt beheimatet ist – und mit ihren Protesten vor allem ihrem blütenreinen Katholizismus Tribut zollt, was die Sache noch um einiges schärfer macht, in erster Linie für Madame J. selbst. Das ist die moralische Falltür dieser Fabel.

Kurz und gut: Sades Schilderungen beschreiben im Grunde einen spielerischen Umgang mit Sexualität, stehen im Zeichen transgressiver Rollenspiele, die ja heutzutage – in den sexuell aufgeklärten Gegenden des blauen Planeten in jedem Supermarkt angeboten werden. Nur finden sie im Reich des Marquis vor einem Hintergrund statt, der für derartige Ausschweifungen einen hohen Blutzoll fordert; da kommt sie her, aus der Repression fließt sie, jene mörderische Färbung der Texte, die Moralistinnen und Moralisten so ganz besonders unerträglich finden (nebst dem Analverkehr natürlich).

Und heute. Da gibt es natürlich die streng ritualistischen veranlagte BDSM-Gemeinschaft, eine ehrenhafte Truppe mit ihrer ganz und gar uniformen Ästhetik, ihren Safewords («Gänseblümchen») und Vereinsstatuten. Wir haben natürlich nichts dagegen, finden die Sache fördernswert, gehören aber nicht dazu.

Die Gründe dafür können wir aufdecken, in dem wir das Wort Sadismus unter die Lupe nehmen. Der Sadist ist einer, der sich andere beim Sex gerne unterwirft.

So haben es die verdienstreichen frühen Vertreter der Sexualpsychologie (ich sage nur Krafft-Ebing, könnte aber auch noch Magnus Hirschfeld anfügen) gewollt.

Nur war er kein Sadist, unser Marquis, er hat die Peitsche im Rahmen des erotischen Spiels genauso gerne geschwungen wie gespürt. Die Protagonisten seiner Histörchen sind (hahaha) polymorph pervers. Sie lassen sich in jede Richtung treiben, jede Wetterlage ihrer Launen und Phantasien will ausgelebt werden.

Sie sind erotische Abenteuerfiguren ohne Vereinsstatuten, ohne Lack- und Lederkostüme, sie sind Situationistinnen und Situationisten der Trangression, erotische Tausendsassas, manchmal Clown, manchmal tragische Opfergestalt, manchmal Henker. Sie lassen alle Wurzeln der Erotik blühen und sprießen.

Dazu gehören auch unvorsehbare Akte. Und gerade deshalb kann Donatien Alphonse François kein Safeword sein. Sondern eine Aufforderung zu einer nimmer endenden sexuellen Revolution, die sogar der Impotenz die Stirn bietet, indem sie Möglichkeiten einer sexuellen Befriedigung schafft, die bloß noch im Kopf stattfinden, zerebrale Orgasmen, Meta Sex, Sexualmagie. Unter dem Motto: „Weiter, immer weiter!“

Ja, es war die erotische Anarchie, die der göttliche Marquis predigte. Und in unserer Zeit des ultra-konsensuellen, pasteurisierten, streng etikettierten sexuellen Abenteurertums (mehr Disneyland als sündige Klosterkaverne) könnten wir durchaus einen Schuss mehr davon brauchen.

 

Christian Platz lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt.

 

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