Geschrieben am 6. Juni 2012 von für Litmag

Carl Wilhelm Macke über die italienische Region Emilia Romagna

Die Emilia Romagna – Heimat der Erzähler und Verrückten

– Mit einem Schlag – und das kann man wörtlich nehmen – ist in der italienischen Region Emilia nichts mehr so, wie es vorher war. Am 20. Mai 2012, die Nacht begann gerade etwas lichter zu werden, bebte die Erde zwischen Modena, Bologna und Ferrara. Seitdem kommt es immer wieder zu zahlreichen schweren Nachbeben, zuletzt am 3./4. Juni. Carl Wilhelm Macke, Herausgeber der Anthologie „Bologna und die Emilia Romagna – Eine literarische Einladung“ führt uns den Zauber dieser von der Naturkatastrophe so schwer getroffenen Region und ihre kulinarischen und literarischen Highlights  vor Augen.

Leichte Beben, flüchtige Zuckungen der Erde hat es in Norditalien immer schon gegeben. Niemand nahm das besonders ernst. Das letzte große Erdbeben lag immerhin schon über fünfhundert Jahre zurück. Das wird sich schon nicht wiederholen, dachten hier alle, glaubten hier alle, hofften hier alle. Doch dann, völlig überraschend, vollkommen unerwartet, krachte es gehörig in der Emilia. Kaum ein Haus in dieser Gegend blieb nach diesem „Big Bang“ im Mai ohne Risse in der Wand. Kirchen zerbröselten wie ein alter, vollkommen vertrockneter Kuchen. Fabrikhallen wurden unter zusammenkrachenden Dächern platt wie eine Pizza gemacht. Rathäuser und Kindergärten, Schulen und Museen konnten nicht mehr betreten werden. Und es blieb nicht bei dem einen, alle und alles erschütternden Beben. Tagelang grummelte, zuckte und knirschte die Erde weiter, ein einziger „Incubo“ (Alptraum) war das für die Menschen in den ansonsten so ruhig dahinlebenden, in den heißen Sommermonaten auch dahindämmernden Dörfern im Süden von Ferrara.

Geändert hat sich in den letzten Jahren bereits vieles hier in dieser Region, wo so wunderbar gut gekocht wird, wo Erzähler für verrückt erklärt werden und dennoch Literaturpreise erhalten. Und wo man den Verrückten stundenlang zuhört und sie als große Erzähler verehrt. Diese Landschaft, so hat es einmal der Schriftsteller Luigi Malerba gesagt, „bringt Verrücktheiten hervor und regt die Phantasie an“. Mehr kann man als lesender und zuhörender Literaturfreund von einer Landschaft nicht erwarten.

Man muss die Älteren fragen, wie das war in den fünfziger, sechziger Jahren, als man tagelang die Hand nicht vor den Augen sah, weil der Nebel im Herbst von morgens bis abends die Städte und Dörfer entlang des Po in dicke Watteballen hüllte. „Nebbia e nebbia per giorni“ (Attilio Bertolucci). Was wären die frühen Filme eines Michelangelo Antonionis, die Romane eines Riccardo Bacchelli oder Giorgio Bassani, die Fotografien eines Luigi Ghirri ohne den ständig präsenten Nebel?

Dunstige und verhangene Tage gibt es auch heute noch in der Emilia, aber man muss nur zum Beispiel die Schornsteine der Chemieindustrie am Horizont vor Ferrara sehen, um zu erfahren, woher diese klebrigen, undurchsichtigen Stimmungen an den Herbstabenden kommen. Nirgendwo sonst in Italien sieht man auf den kleinen Nebenstraßen, auch in manchen Städten, so viele Fahrräder wie in der Emilia Romagna. Sobald man aber die abseits gelegenen Straßen verlässt, donnert ein Schwertransporter nach dem anderen über die traditionsreiche Via Emilia oder Via Romea. Rote Fahnen flattern immer noch in vielen Gärten, aber hier wohnen keine Kommunisten mehr, die stolz ihr politisches Bekenntnis zur Schau stellen. „Terra Rossa“ ist die Emilia Romagna geblieben, aber schaut man genauer hin, entdeckt man nicht mehr Hammer und Sichel auf den Fahnen, sondern das Firmenemblem von Ferrari, dessen Hauptsitz sich auch in der Emilia (in Maranello bei Modena) befindet. Die Mehrheit der Kommunen in der Emilia Romagna wird immer noch von politischen Parteien regiert, die man irgendwie als „links“ bezeichnen kann – was immer das heute noch heißen mag. Berlusconi und die rechtspopulistische Lega Nord finden jedenfalls hier keinen fruchtbaren Boden. Aber auch diese politisch linke Hegemonie schmilzt mit jeder Wahl immer mehr. Abgesehen von den älter und alt gewordenen Genossen will sich hier niemand mehr „Kommunist“ nennen. „Peppone“, der von Giovanni Guareschi (auch er ein „Emiliano“) erfundene kommunistische Parteifunktionär mit stalinistischen Allüren und katholischem Glauben, ist längst zu einer Postkartenfigur geworden wie auch sein listiger katholischer Widerpart Don Camillo. Wenn es überhaupt noch in jedem Dorf einen Pfarrer gibt, dann kommt dieser heute oft aus Polen oder Afrika. Es gibt entsakralisierte Kirchen, in denen Antiquitäten untergebracht sind oder die als Schuppen für Landmaschinen dienen. In manchen Kleinstädten leben heute ebenso viele Muslime wie praktizierende Katholiken. Evangelikale Sekten versuchen vor allem über das Fernsehen Mitglieder für ihre Kirchen zu gewinnen.

Um die Städte Bologna, Parma, Modena, Piacenza, Reggio Emilia, Ferrara, Ravenna, Rimini mit ihren wunderbaren Plätzen und Renaissancepalästen haben sich dicke Krusten von Supermärkten, Outlet-Stores, Autowaschanlagen und Diskotheken gelegt, die es so auch in jeder anderen europäischen Region gibt. Vielleicht sind aber die italienischen Vorstädte noch langweiliger, noch kommerzialisierter, noch hässlicher als die in vergleichbaren anderen Gegenden Europas. Die Zerstörung der Landschaft und die Zersiedelung werden hier vielleicht deshalb als so deprimierend und schmerzhaft wahrgenommen, weil die Bilder des alten Italien in unseren Köpfen so heil und so idyllisch sind. Aber diese Städte und Dörfer der Emilia Romagna verbergen immer noch Geheimnisse, die die Fantasie der Schriftsteller – neuerdings vor allem der Krimiautoren – entzündet. Und wie man auch in einigen in der Anthologie „Bologna und die Emilia Romagna“ (mehr hier) präsentierten Texten spüren kann, ist der Stolz der hier lebenden Menschen auf die „Bella Pasta“, den Prosciuto di Parma oder die Piadina Romagnola ungebrochen. In jedem kleinen Dorf findet man eine Trattoria, in der ein Menü angeboten wird, von dem man jenseits der Alpen nur träumen kann. Mögen auch die traditionellen kommunistischen Festa dell’Unità längst ihren politischen Anspruch – oft auch ihren Namen – verloren haben, gekocht wird auf diesen sich über Wochen hinziehenden Festen nach wie vor wie zu Zeiten der alten Landarbeiterkooperativen.

Und stolz ist man auch auf die Literatur der Emilia Romagna, die der italienischen Kultur unsterbliche Werke und legendäre Schriftsteller geschenkt hat. In den Schulbüchern wimmelt es nur so von Autoren, die hier geboren, aufgewachsen und gestorben sind oder die ihre Romane und Erzählungen hier angesiedelt haben. Ariost, Pascoli, Bassani, Bacchelli, Guareschi, Malerba stammen aus dieser Gegend. Pier Paolo Pasolini ist in Bologna geboren, hat aber seine Kindheit im friulanischen Casarsa delle Delizie verbracht, wo sich heute auch sein Grab befindet. Auch Umberto Eco ist kein Emilianer (im piemontesischen Alessandria aufgewachsen), lebt aber schon seit Jahrzehnten in Bologna und San Marino, dem autonomen Ministaat inmitten der Romagna.

Piemonteser war auch Mario Soldati, aber er liebte die Polandschaft sehr und hat ihr einige seiner schönsten Reiseerzählungen gewidmet. Gianni Celati stammt aus dem lombardischen Sondrio, aber wie kein Zweiter unter den italienischen Schriftstellern hat er den „Matti Padani“, den Käuzen entlang des Po wunderbar liebevolle Geschichten gewidmet. Noch bizarrer, verrückter und fantasiereicher sind vielleicht die literarischen Figuren des in Reggio Emilia geborenen Ermanno Cavazzoni. Wer dessen Erzählungen nicht gelesen hat, wird das Besondere, das oft Skurrile, Widerborstige der Menschen entlang des Po nie verstehen. Bedeutende italienische Journalisten wie Enzo Biagi, Gianni Brera und Sergio Zavoli stammen hierher. Lucio Dalla und Francesco Guccini, zwei der ganz großen italienischen „Cantautori“ der siebziger, achtziger Jahre entstammen Bologna bzw. Modena. Und aus Zocca im Hinterland von Bologna kommt Vasco Rossi, der aktuelle Rocksuperstar Italiens. Nicht zu vergessen natürlich zwei Giganten des italienischen Films: der Rimenese Federico Fellini und der Ferrarese Michelangelo Antonioni. Cesare Zavattini, jenseits der Alpen vielleicht nur noch Cineasten als ein genialer Drehbuchschreiber („Umberto D“) und „Kulturimpressario“ bekannt, stammt aus Luzzara in der Nähe von Parma.

Sie alle repräsentieren die „alte“ Emilia Romagna, und wenn man ihre Bücher liest oder ihre Filme sieht, dann kann man noch einmal einen längst vergilbten Mythos der Emilia wahrnehmen. In den Texten der jüngeren Autoren spürt man aber auch, wie sehr die rasante Industrialisierung diese Region geprägt und oft auch deren Landschaft zerstört hat. Giulia Niccolai ist hier zu erwähnen, Simona Vinci oder der grandiose Krimiautor Carlo Lucarelli. In ihren Büchern spiegeln sich die Härte und Kälte eines dort stattfindenden Modernisierungsprozesses wider. Gewalt und Bauspekulation, Rassismus und Egoismus sind auch in dieser Gegend in den letzten Jahren immer spürbarer geworden.

Aber so wie an manchen Abenden das milde Licht immer noch die Poebene verzaubert, so findet man auch unter den jüngeren Schriftstellern der Emilia Träumer und Verrückte, Spottdrosseln und Polemiker , die sich den für diese Gegend typischen anarchischen Witz auch von der düstersten Realität nicht nehmen lassen. Und vielleicht ist das sogar eine gute Voraussetzung für die Wiederbelebung der Emilia nach den vielen großen und kleinen Erschütterungen der letzten Wochen.

Carl Wilhelm Macke

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