Die Gondel der Preisträgerin
– Bericht von den 44. Rauriser Literaturtagen (26.3.–31.03.2014) – Rauriser Literaturpreis 2014 für Saskia Hennig von Lange; Förderungspreis für Renate Aichinger. Von Senta Wagner
Der Besuch einer Veranstaltung irgendwo auf der Welt, auch in der österreichischen Bergwelt, verlangt zuallererst eine kleine Landeskunde. Rauris ist eine 3100-Seelen-Marktgemeinde im Salzburger Land und Sitz der regional und weit fort strahlenden jährlich stattfindenden Rauriser Literaturtage. Ein Dreitausender ist auch der Rauriser Sonnblick, er thront über dem sonnenbeschienenen Tal. Alle Tage lang. Es hatte frisch geschneit, die höheren Lagen waren weiß. Wenn man bedenkt, welche Räume und Reiche die Dichtung entwirft, so ist es umso erstaunlicher, wie wenig Platz es braucht, dieser zu begegnen. Ein Dorf steht Kopf. Dennoch ist die Veranstaltung eine der ganz besonderen Größenordnung und Intensität.
Die Naherfahrung mit den Autorinnen und Autoren, den Veranstaltern, dem Publikum aus Dorf und Stadt ist Programm. Rauris ist wie ein Kokon voller Literatur, deren lustvolle Vermittlung oberstes Anliegen. Auf thematisch grenzüberschreitende Gespräche und Austausch wird gleichermaßen Wert gelegt. Man gibt sich offen, kritisch und aufklärerisch, entspannt und bestens gelaunt, was hier kein Widerspruch ist. Es scheinen Eingeweihte am Werk zu sein.
Historischer Berg
Die Literaturtage haben mit ihrer Gründung im Jahr 1971 eine mehr als vierzigjährige Tradition: „Literatur aufs Land tragen“ nannte man das damals. Rauris ruht auf einem historischen Bergmassiv, von früher bis heute haben dort viele, viele namhafte Autorinnen und Autoren gelesen. Gewinner des vom Land Salzburg ausgelobten Rauriser Literaturpreises (8.000 Euro) zu sein, ist das i-Tüpfelchen in Rauris. Die international renommierte Auszeichnung wird verliehen für die beste deutschsprachige Prosaerstveröffentlichung – ein Debüt gibt es nur einmal, eine erste Talentprobe auch. Aus dem Reigen der Preisträger gingen bisher einige der wichtigsten Gegenwartsschriftsteller hervor; die Liste liest sich wie ein Who’s who der Dichtkunst seit den 1970ern: etwa Herta Müller, Norbert Gstrein, Judith Kuckart, Felicitas Hoppe, Peter Stamm, Juli Zeh, Maja Haderlap.
Im Reich der Innenohren
In diesem Jahr ging der Hauptpreis an die Ende Dreißigjährige Saskia Hennig von Lange für ihre atemberaubende Novelle „Alles, was draußen ist“ (Verlag Jung und Jung, 2013). Es ist Eröffnungsabend in der guten Dorfgaststube, uraltes Gemäuer, unzählige Schwarz-Weiß-Aufnahmen alter Rauris-Lesungen an den Wänden, Geweihe, Kitsch, blasse Vorhänge – ein unantastbares Interieur, das gehört dazu. Es drängen sich sitzend und stehend mehr als 300 Gäste. Die Lesung der Gewinnerin legt sich wie Musik über das stille Publikum, im Rhythmus des Textes bebt der Körper der Autorin mit. Sie erzeuge einen Klangkörper, heißt es in der Laudatio von Elke Brüns. Tatsächlich spricht die Jungautorin beim Schreiben.
Hennig von Lange führt in ihrem schmalen Text das Unerhörte eines Anatomiemuseums und seines todkranken Wärters vor, wo es mehr um die Sterblichkeit geht als um das Leben, vielmehr um die Hinterlassenschaft der Spuren aus diesem. Wie sehen die aus? Jeder trage in sich die Sehnsucht nach einer Zeugenschaft seiner Existenz, sagt die Autorin. Das vermag die Kunst, hier die Schrift, denn der Mann macht nicht Abdrücke seines eigenen Körpers, sondern hinterlässt auch persönliche Aufzeichnungen. „… mit aphoristischer Prägnanz zeigt Saskia Hennig von Lange, was große Literatur ist: schillerndes menschliches Universum und Weite der Welt auf kleinstem Raum“, heißt es in der Jurybegründung.
Den Rauriser Förderungspreis 2014 (vergeben vom Land Salzburg und Rauris, dotiert mit 4.000 Euro) erhält die Regisseurin und Dramatikerin Renate Aichinger für ihre schöne Kurzprosa „amaurose“ zum Thema Zeitgeist. Der anonymisierte Wettbewerb erleichterte es der Jury, sich unbefangen über die literarische Qualität den Texten zu nähern.
Goethes „Zauberblätter“, das liebe Geld
Das die Literaturtage – unter der gewandten Intendanz von Ines Schütz und Manfred Mittermeyer – umspannende zentrale Motto in diesem Jahr lautet: Kapital.Gesellschaft. Ein Thema, so komplex, kompliziert und antiliterarisch es ist, das den Menschen wortwörtlich auf den Nägeln brennt. Jeden einzelnen mag die Globalisierung, fortschreitende ökonomische Zwänge und Finanzskandale umtreiben, in Rauris wird die Frage freilich an die Darstellungsmöglichkeiten der Literatur gebunden.
Im Mittelpunkt von Rauris stehen die zwölf Lesungen der angereisten Autorinnen und Autoren, darunter von Literaturgrößen wie Robert Menasse, Ilja Trojanow, Joseph Winkler, Ernst-Wilhelm Händler und Kathrin Röggla. Die meisten von ihnen kommen an den vier Tagen mehr als einmal zu Wort. Auf keines hätte man verzichten wollen. Ihre jüngsten Publikationen berühren alle in einer Weise das obige Thema, die auch die jeweiligen Gespräche mit den Lesenden darauf hin abklopfen. Auch wiederkehrende literarische Topoi legen bald ein Netz an Querverbindungen über Rauris. Daneben gibt es Gespräche über die Kindheit mit Brita Steinwendtner, einen nachmittäglichen Schwerpunkt Lyrik (mit der wunderbaren Andrea Grill, Sabine Gruber und Fiston Mwanza Mujila aus dem Kongo) und Rauriser Specials wie die Störlesung.
Von Müdigkeit keine Spur: In einem gut besuchten mitternächtlichen Gespräch wird das zentrale Thema angegangen und der Zusammenhang von Ökonomie, Politik und literarischem Diskurs reflektiert. Die Grenzen und Schwierigkeiten einer literarischen Reaktion in Krisenzeiten seien schlicht vorhanden, sind sich die drei Expertinnen einig, darunter die Literatin Kathrin Röggla, längst sei ein allgegenwärtiges neoliberales Narrativ zu beobachten. Dennoch, die Literaturwissenschaftlerin Evelyne Polt-Heinzl betont die Funktion der Literatur als „Gedächtnisspeicher“.
Gaststuben, Dichterhotel, Heimalm
Die Rauriser Literaturtage haben ihre eigene Choreografie. Im Zickzackkurs geht es an den vier Tagen durch den lieblichen Flecken zu den Veranstaltungen, in zwei Gasthöfe hinein und wieder hinaus, weiter ins sogenannte Dichterhotel bis hinauf auf die Heimalm, die Mittelstation der Skifahrer – einem identitätsstiftenden Ort der Literaturtage. Dort sitzt man nach Abschalten der Gondeln, die erst am dunklen Abend wieder ins Tal fahren, in der Literaturfalle fest. Es ist proppenvoll. In luftiger Höhe kommt es auch zur Entdeckung der Saskia Hennig von Lange gewidmeten Gondel. Weitere Entdeckungen sind die Romane der Autorinnen Nora Bossong, Angelika Reitzer und Marie-Jeanne Urech aus der Schweiz (Lesung und Gespräch auf Deutsch und Französisch). Im Anschluss an ihre Lesungen gibt es geleitete Gespräche und eine Jause aufs Haus.
Reitzer liest aus ihrem neuen Roman „Wir Erben“, der so dicht und kunstvoll wie elegant von den Lebenszeiten zweier Frauenfiguren und ihres Umgangs mit ihrer Erbmasse erzählt. Es gelingt darin, zwei unterschiedliche Geschichten zu einer Geschichte der Verortung und Selbstvergewisserung der beiden Protagonistinnen verschmelzen zu lassen. Urech schaut ihre Stoffe der Realität der Arbeitswelt ab, das reiche, die sei an sich schon skurril und absurd genug, sagt sie. Für ihre Sozialkritik in dem Roman „Mein sehr lieber Herr Schönengel“ (2009) findet sie einen hochpoetischen Erzählton und hebt ihn damit ins Überzeitliche, ja Universelle.
Ein berührendes politisches Statement zur aktuellen bedrohlichen Lage in der Ukraine kommt von der jungen Ukrainerin Tanja Maljartschuk, die dafür viel Applaus erhält. Nicht weniger für ihre charmante Lesung, bei der sie auf Deutsch aus dem 2013 erschienenen Roman „Biografie eines zufälligen Wunders“ Passagen vorträgt. Die Nähe von Tragik und Komik machten für sie die Umstände in ihrem Land erträglich.
Rauris.Universität
Junges Publikum gibt es auch, unübersehbar. Als „Zielgruppenöffnung“ sind die Werkstattgespräche mit Studierenden zu verstehen: Rauris.Universität, eine ausdauernde Kooperation mit der universitären Germanistik in Österreich. Penibel werden ausgewählte Texte der Autorinnen und Autoren vorbereitet, die wiederum geduldig Rede und Antwort stehen, wie etwa die Preisträgerin, Nora Bossong, Sabine Gruber und Kathrin Röggla, die Krisen- und Katastrophenauskennerin und sprachkritische Mahnerin der medialen Katastrophenrhetorik. Der Schriftsteller Joseph Winkler geht die Sache anders an. Die Fragen der Studierenden aus Graz werden schlichtweg nicht oder auf Umwegen beantwortet. Die Gesprächsrunde gleicht einer spontanen Inszenierung Winklers, die in der Gaststube für viel Gelächter sorgt. Der Autor ist für seine sich aus „Wortanfällen“ speisende Dichtkunst, die in einem engen Bezug zu seiner Heimat steht, ebenso angesehen wie für seine Gesellschaftskritik. Sein Plädoyer gilt der Sprache und ihrer Weiterentwicklung. Was Größeres als Literatur habe die Menschheit nicht erreicht. Das mussten die Studenten verdauen.
Die Gestaltung der Rauriser Literaturtage ist dicht gepackt, Zeit zum Bergluftatmen bleibt im Dazwischen. Aus dem Kokon ist man auch nach dem Fortgang aus Rauris noch lange nicht geschlüpft. Spätestens im nächsten Jahr umfängt er einen wieder.
„Rauris ist ja nicht nur ein Ort, sondern auch ein Wort“ (Hennig von Lange).
Senta Wagner
Mehr zur den Rauriser Literaturtagen
Buchempfehlungen:
Angelika Reitzer: Wir Erben. Roman. 2013.
Tanja Maljartschuk: Biografie eines zufälligen Wunders. Roman. 2013.
Joseph Winkler: Mutter und der Bleistift. 2013.
Sabine Gruber: Zu Ende gebaut ist nie. Gedichte. 2104.
Ilja Trojanow: Der überflüssige Mensch. Streitschrift. 2013.
Fotos: Senta Wagner