Geschrieben am 3. Juni 2018 von für Litmag, TABUMAG

Annekathrin Kohout: Die Räume der Nonkonformisten

Bild: Christian Rudolf Noffke

 

Annekathrin Kohout: Die Räume der Nonkonformisten (Gehäus, Tonne, Dachkammer, White Cube) – und der Safe Space

Üblicherweise nehmen Menschen einen gewissen Anteil an ihrer Außenwelt, an der Gesellschaft, der Politik oder der Kultur. Meistens sind sie eingebettet und integriert in gängige Abläufe, sie kennen und befolgen Regeln, die besagen, wie man sich zu verhalten hat – oft einfach aus Bequemlichkeit, um als ‚normal’ zu gelten oder nicht aufzufallen.

Sehr lange gehörte es zur Legendenbildung um den Künstler, seine Sonderstellung zu betonen, die darin bestand, sich von der Außenwelt abzuwenden und in die eigene Tätigkeit zu versenken. Es war ein beliebtes Motiv in den Anekdoten über Künstler, dieses Verhalten slapstickartig zu inszenieren. So habe laut Giorgio Vasari Parmigianino seelenruhig weitergearbeitet, als die Spanier im Jahr 1527 gerade dabei waren, Rom zu erobern. Uccello hat sich trotz der nächtlichen Verlockungen der Liebe nicht davon abbringen lassen, mit Leidenschaft das Studium der Perspektive weiter und weiter zu verfolgen. Und Brunelleschi vergaß sogar zu schlafen und zu essen, als er die antiken Bauten von Rom erforschte. Es war zudem ein Narrativ, das sich der Künstler mit dem verrückten Wissenschaftler oder Gelehrten teilte, wie Ernst Kris und Otto Kurz in ihrem „geschichtlichen Versuch“ von 1934, dem Buch „Die Legende vom Künstler“, bemerkt haben.

           Es sei mir daher gestattet, auch die Geschichte des Astronomen Thales von Milet anzuführen, der, so lässt Platon Sokrates in seinem Dialog „Theaetet“ berichten, eines Nachts die Sterne erforschen wollte und, während er versonnen in den Himmel blickte, in einen Brunnen fiel, woraufhin ihn eine witzige und hübsche Magd ausgelacht habe. Die Geschichte von der lachenden thrakischen Magd wurde in der Kulturgeschichte immer wieder aufgegriffen und interpretiert. So sah etwa Hans-Georg Gadamer in dem Sturz einen bewussten Abstieg, da Thales der Brunnen als „antikes Fernrohr“ gedient habe. Hans Blumenberg nennt die Geschichte in seinem Buch „Das Lachen der Thrakerin“ sogar eine „Urgeschichte der Theorie“ – und auch des Typus des sonderbaren Theoretikers. Noch deutlicher als in den Künstleranekdoten wird im Auslachen die Unfreiwilligkeit des Nonkonformismus betont. Ob Parmigianino, Uccello, Brunelleschi oder Thales: Aus der Sicht von nicht in die Kunst oder Theorie Eingeweihten, wie zum Beispiel der Magd, ist ihr Verhalten unnormal und befremdlich. Denn wie die Theorie ist auch das Rätsel um den Künstler, sind seine Inspiration und Ideen unsichtbar und abstrakt, nicht Teil der für alle sichtbaren und zugänglichen Lebenswelt.

Das schützende Gehäuse

Deshalb, so Blumenberg, ziehen sich die Sonderlinge und Nonkonformisten in Gehäuse (allein oder zusammen mit ihresgleichen) zurück, in denen eben jenes Handeln, das (zumindest von außen) nicht der Norm oder gesellschaftlichen Konvention entspricht, als nicht anstößig gilt. Beispielhaft für dieses Motiv hat sich in der Kunstgeschichte die Ikonographie des Kirchenvaters Hieronymus im Gehäus etabliert. Eine der populärsten Darstellungen dürfte die von Albrecht Dürer von 1514 sein: Hieronymus sitzt über eine Schrift gebeugt und in sie vertieft am Tisch, vor ihm wacht der gezähmte Löwe, aus dem Fenster strahlt das Sonnenlicht herein, wird aber überstrahlt vom Schein, der den glühenden Kopf des Hieronymus umgibt. Er ist ein nachlässiger Eigenbrötler: gesammelte Gegenstände hängen wild an der Wand, die Kissen liegen unaufgeschüttelt, regelrecht geknautscht herum. Die Schuhe nicht ordentlich nebeneinander, sondern gekreuzt übereinander unter der Bank. Er selbst ist barfuß, was er aufgrund seiner Kontemplation nicht zu bemerken scheint. Hieronymus ist sicher und unbeobachtet in seinem Gehäus, aber auch abgeschottet von all den Konventionen, die er bricht.

Die demonstrative Tonne

 Deshalb würde man bei solch einem sonderbaren Verhalten oder unfreiwilligen Nonkonformismus, der hinter verschlossener Tür stattfindet, auch nicht von einem Tabubruch sprechen. Wer Tabus bricht, tut dies gemeinhin mit einer gewissen Angriffslust und nutzt dies nicht zuletzt zur Selbstinszenierung. Tabus werden mit Absicht gebrochen, sei es, um überhaupt auf sie aufmerksam zu machen, oder um tatsächlich eine Veränderung von Normen herbeizuführen. In jedem Fall geht dem Tabubruch ein starkes Selbstverständnis – als Künstler, Gelehrter, Sonderling – voraus.

            Ein Prototyp des Tabubrechers lässt sich ebenfalls im antiken Griechenland aufspüren: der Philosoph Diogenes von Sinope. Er lebte freiwillig ohne Hab und Gut in einer alten Tonne. Welch große Provokation damit verbunden war, zeigt sich darin, dass das Sujet von Diogenes in der Tonne bis ins späte 19. Jahrhundert immer wieder aufgegriffen wurde. In unzähligen Gemälden sieht man den Kyniker, in Lumpen in einer alten, durchlöcherten Tonne hocken. Sie ist keinesfalls Schutz, wie es das Gehäus dem Gelehrten war, sondern dient ihm dazu, unabhängig zu sein – von allem, bis auf die elementarsten Bedürfnisse. Dass die Tonne für Diogenes ein Statement-Piece ist, wird deutlich, wenn man darauf achtet, wo er sich mit ihr platziert: vor allem in öffentlichen Räumen. Er ist nicht zurückgezogen, sondern sucht gezielt nach der Konfrontation mit der normierten Bürgerschaft.

            Die Widerständigkeit des Philosophen wird auch in seinen Darstellungsweisen deutlich. In Raffaels berühmter „Schule von Athen“ von 1509/10 liegt Diogenes lässig auf einer großen Treppe in der Bildmitte, heute würde man sagen, er ‚chillt‘. Um ihn herum befinden sich angeregt Diskutierende, hinter ihm schreiten Platon und Aristoteles ehrenhaft und etwas großspurig in die Halle hinein. Umringt von ihren Fans sehen sich die beiden großen Philosophen stolz- und glückserfüllt in die Augen. Das berühmte Fresko wird zu einer Slapstick-Komödie, lässt man die beiden weiterlaufen und über den rumlungernden Diogenes stolpern, der ihnen genauso zu Füßen liegt wie der Brunnen dem Thales. Wenn man es genau nimmt, liegt Diogenes im Goldenen Schnitt, er ist der Star des Bildes – und zwar gerade weil er sich dem bürgerlichen Lebensstil verweigerte. „Diogenes lebte laut wie ein Popstar“, meint Ulf Poschardt in seiner Studie über Coolness. Aber er zeigt vor allem, wieviel Arroganz in der asketischen Lebensweise von Diogenes liegt, in seinem demonstrativen (und nicht versteckten) Hausen in der Tonne. Diese Arroganz verlieh ihn den Respekt von Alexander dem Großen, der dem Rebellentum des Kynikers zu gesellschaftlicher Akzeptanz verhalf, seinen Nonkonformismus als ‚cool‘ darstellte. (Alexander soll sogar gesagt haben, dass er, wenn er nicht Alexander, am liebsten Diogenes wäre.) „Die Verehrung, die Alexander der Große Diogenes entgegenbrachte“, schreibt Poschardt, „bedeutete eine Anerkennung des Ausgestoßenseins vonseiten der Macht.“

Vom Rand an die Spitze: Die Dachkammer

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts etabliert sich ein neuer Raum zur Darstellung von Nonkonformisten, besonders von Dichtern und Künstlern: die Dachkammer. Das Motiv ist etwas ambivalenter als die Tonne und steht doch in deren Tradition. Denn das Leben in der Dachkammer ist nicht immer frei gewählt, man denke etwa an die berühmte Darstellung „Der arme Poet“ von Carl Spitzweg (1839). Hier liegt keinesfalls eine Selbstinszenierung vor, wenngleich der Poet trotz offensichtlicher Nässe (die Decke ist löchrig) und Kälte (der Poet ist in Decken gehüllt) zufrieden wirkt (und nicht gescheitert), denn er ist – wie Hieronymus – ganz in seine Arbeit vertieft. Viel häufiger wird die Dachkammer jedoch mit einem gewissen Sendungsbewusstsein als Sinnbild der gesellschaftlichen Randlage des Künstlers verwendet. Trotzig ruft der Künstler den Betrachtern entgegen, wie es um seine Existenz bestellt ist – und dass er diese selbstredend in Kauf nimmt.

            Anhand des Gemäldes „Selbstbildnis in der Dachkammer“ des Expressionisten Gert Wollheim von 1924 zeigt Walter Grasskamp in einem Aufsatz über Dachböden und Keller, wie die Künstlergeneration um die Jahrhundertwende zu einem neuen Selbstbewusstsein kam und „sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Avantgarde vom Rand an die Spitze der bürgerlichen Gesellschaft gesetzt hat.“ Wie auch Diogenes war der Künstler nun kein randständiger Sonderling mehr, sondern besaß mit seinem coolen Rebellentum, mit selbstgewähltem Nonkonformismus oder Tabubrüchen Macht. Noch deutlicher wird dies in einem Gedicht von Charles Baudelaire („Landschaft“ von 1901), in dem er vor allem die Hochlage der Dachkammer in Szene setzt, von der aus man alles herrschaftlich überblicken kann.

Der elitäre White Cube

Denn die Dachkammer ist als Instrument zum Erwerb von Coolness und Souveränität dekuvriert. Besonders schön nachvollziehbar ist das in Jörg Immendorffs Bild „Ich wollte Künstler werden“ von 1972. Unter sein Selbstbild in der Dachkammer, über dem Künstler eine comicartige Gedankenblase, in der man einen White Cube und eine Zeitung sieht, schreibt Immendorff: „Ich träumte davon, in der Zeitung zu stehen, von vielen Ausstellungen, und natürlich wollte ich etwas ‚Neues‘ in der Kunst machen. Mein Leitfaden war der Egoismus.“ Der ironische Kommentar entlarvt den inszenierten Nonkonformismus des Lebens in der Dachkammer, die gezielten Tabubrüche der Avantgarde, als Mittel zum Zweck. Im Geheimen, so entnimmt man der Gedankenblase, wünscht man sich keine Veränderungen der Gesellschaft herbei, sondern Reichtum und Erfolg. Immendorffs Kritik ist repräsentativ und wird von jener am Elfenbeinturm im Zuge der 68er-Bewegung begleitet: Was lange als Ort der Abgeschiedenheit und Unberührtheit von der Welt verklärt wurde, wird zusehend als exklusiv, elitär und weltfremd wahrgenommen.

            Der White Cube wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts zunehmend zum Austragungsort für die Tabubrüche der Kunst. Im White Cube ist der Künstler frei, er kann (von äußeren Einflüssen befreit) machen, wofür er andernorts bestraft werden würde. Er kann – wenn auch nicht ohne Hindernisse – Tierversuche oder einen Hitlergruß machen. Anders als die Gehäuse der Wissenschaftler finden diese Tätigkeiten trotz alledem in der Öffentlichkeit statt, insofern ist der White Cube eher als eine renovierte und weiß gestrichene Tonne anzusehen. Doch im Gegensatz zur Tonne, in der ein einzelner wohnen und arbeiten kann, ist der White Cube eine Institution, in der nicht gelebt und gearbeitet, sondern ausschließlich ausgestellt wird. Nonkonformismus und Tabubruch wird in diesem Raum auf seine Öffentlichkeitswirksamkeit reduziert und dadurch zur Norm des ‚Systems‘ Kunst. Wenige Jahre nach Immendorff kritisiert Brian O’Doherty in seiner populären Schrift „Inside the White Cube: The Ideology of the Gallery Space“: „Eine Galerie wird nach Gesetzen errichtet, die so streng sind wie diejenigen, die fü̈r eine mittelalterliche Kirche galten.“

Der Safe Space

Natürlich blieb die Kritik am White Cube nicht folgenlos und es gab und gibt unzählige Versuche, mit Kunst auch politisch zu wirken, oder in die tatsächliche Lebenswelt einzudringen und dadurch mitzugestalten: Ai Weiwei besucht Flüchtlingslager, Wolfgang Tillmans gestaltet Wahlplakate, das ‚Zentrum für politische Schönheit’ exhumiert im Mittelmeer verstorbene Geflüchtete und begräbt sie in Berlin. Dabei verlassen die Künstler aber nie ihre Komfortzone, die Kunstfreiheit – und machen sich damit auch vielerorts unglaubwürdig. Deshalb hat sich die Kritik verschärft. Im 2017 erschienenen Film „The Square“ von Ruben Östlund wird die weiße, quadratische (wenn auch mittlerweile moralische) Kunstwelt als elitäres Subsystem dargestellt, das sich nur vermeintlich mit gesellschaftlichen Problemen befasst – für deren Lösung es möglicherweise auch produktivere Wege gäbe als die Kunst.

            Sosehr der White Cube ein ‚Safe Space‘ für die Kunst und ihre Tabubrüche war, soll er nun vielmehr ein ‚Safe Space‘ für die Rezipienten werden. Das Museum oder auch die Universitäten als Orte des Schutzes vor Diskriminierung: das ist auf eine Art folgerichtig. Wenn Tabubrüche – in denen es geradezu darum geht, wehzutun – gängige Technik sind, wenn jeder in einer Tonne lebt, dann wird man darin unmöglich unabhängig und frei sein können. Es werden sich eigene Normen und Regeln etablieren. Und was dann? Ja, eine Möglichkeit ist, den Tabubruch (und mit ihm die Kunst) für wirkungslos zu erklären und sie durch die Erschaffung von ‚Safe Spaces‘ zu entmachten. In ‚Safe Spaces‘ hält man sich an Regeln, man bricht sie nicht. Denn wer bricht, tut dies auf Kosten anderer, ob unfreiwillig oder gezielt. Lange war das ein probates Mittel um sich zu behaupten, um Macht zu beanspruchen: Nur so hat Diogenes sich Alexander zum Freund gemacht. Niemand ist in der Rezeptionsgeschichte auf den Gedanken gekommen, dass sein selbstgewähltes nonkonformistisches – cooles – Leben in der Tonne möglicherweise einen Affront gegenüber den tatsächlichen Armen und Obdachlosen dargestellt haben könnte. Heute müsste Alexander der Große, um souverän zu bleiben, Diogenes aus seiner Tonne vertreiben und vom Platz weisen. Er könnte sich nicht mit dem Tabubrecher schmücken. Macht hat nunmehr derjenige, der das Brechen von Tabus verhindert. Und vielleicht kann man noch weiter gehen und behaupten: der immer neue Tabus erfindet. Leider beißt sich hier die Katze in den Schwanz: Was sich als eine Folge von Exklusivierung etablierte, könnte selbst kaum exklusiver und mit mehr Vorschriften und Regeln ausgestattet sein.


Annekathrin Kohout lebt und arbeitet als freie Autorin in Leipzig. Sie ist Redakteurin der Zeitschrift POP. Kultur und Kritik sowie des Online-Magazins Pop-Zeitschrift, außerdem wissenschaftliche Mitarbeiterin am Germanistischen Seminar der Universität Siegen und im Team der Forschungsstelle Populäre Kulturen. Sie schreibt einen Blog über Internet-, Popkultur und Kunst: Sofrischsogut.

 

 

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