Geschrieben am 14. Dezember 2011 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Allerflüchtigster Besuch der BUCH WIEN

Messebericht, Poesie aus Südosteuropa und eine Ankündigung

– Wenn rückschauend Mitte Dezember über ein Wiener Kulturereignis berichtet wird, das Mitte November stattfand, so heißt dies nicht, dass das Ereignis überraschend kam und wieder verschwand, ohne von mir bemerkt zu werden. Tatsächlich musste es diesmal im Großen und Ganzen ohne mich stattfinden. Wenn andere daran mit Gewinn und Genuss teilhatten, so ist dies auch schön. Von Senta Wagner

Die aktuellsten Bücher waren wieder los in Wien und mischten sich gedruckt, vorgelesen, digital, geschenkt, übersetzt, zum Hören, diskutiert mit ihren unendlichen Botschaften in das Leben ihres Publikums – deren Aufnahme bekanntlich die Aktivität des Lesens voraussetzt. Die BUCH WIEN (vom 7. bis 13. November), verstanden als einwöchiges Doppelpack aus Internationaler Buchmesse und Lesefestwoche, ist so was wie die kleine, vorweihnachtliche Schwester der Frankfurter Buchmesse, die jetzt in ihr viertes Jahr hineinwächst. Aus der Vogelperspektive ist sie damit die größte Branchenschau Österreichs rund um das Buch. Am liebsten sei man so bekannt wie die Viennale, wünschten sich die Veranstalter im Vorfeld. Aber bitte ohne lange Einlassschlangen und das Zittern um Restkarten. Vielmehr werde ab sofort an das Kulturgedächtnis der Besucher appelliert, dass die Messe dort auch ihren festen Platz einnehme. Am Schluss hieß es jedenfalls, die BUCH WIEN sei angekommen.

In Zahlen hörte sich das so an: 280 Aussteller aus dreizehn Nationen sowie über 100 Veranstaltungen mit über 300 Autoren und Autorinnen und mehr als 33.000 Besucher. Unter den geballt angetretenen österreichischen Editionshäusern wurden vermisst die Verlage Milena, Luftschacht und Kyrene. Dafür war ja Piper zum ersten Mal mit dabei.

Themen wie die verstärkte Leseförderung des jungen Publikums wurden großgeschrieben und Feuilletonlieblinge wie Judith Schalansky und Charlotte Roche präsentierten ihre Bücher. Die Stadt hat sich neben den Messebühnen einmal mehr als wunderbare Gastgeberin für das Lesefest erwiesen. Eine ganz besondere Einladung ging erneut an die Nachbarn aus Ost- und Südosteuropa, die mit namhaften Autoren (Juri Andruchowytsch oder György Dalos) ebenso antraten wie mit unbekannten. Mit zwei der unbekannten werde ich Sie auf der Stelle bekannt machen:

Messeexkurs 1: Poesie aus Südosteuropa

Rückblickend natürlich punktuell, dafür glänzend ausgewählt von mir war der Besuch einer Lesefestveranstaltung im Literaturhaus Wien: Poesie aus Südosteuropa. Mit der Unterstützung der im letzten Jahr ins Leben gerufenen Lyrikreihe tradukita poezio konnten die aktuellen Veröffentlichungen der serbischen Dichterin Dragana Mladenović und des bosnischen Dichters Faruk Sehič sorgfältig ins Deutsche übersetzt und die Bände zweisprachig verlegt werden. Tradukita poezio ist eines der Herzstücke des Literatur- und Büchernetzwerks TRADUKI und als Gemeinschaftsprojekt mit der Edition Korrespondenzen dem europäischen Lyrikaustausch gewidmet. Es wird aus, nach und in übersetzt, weshalb man sich bei der Kooperation auch den Übersetzerprogrammen ganz besonders widmet.

Foto: Literaturhaus Wien

Zwei junge Stimmen

Die beiden jungen Stimmen zeigten in den starken Lesungen ihrer Gedichte, dass so ein Vorhaben gelingen kann – auch in der Poesie. Genau, warum nicht diese Gattung, die nicht viele, nur die aufgeladenen Worte zu brauchen scheint, um ein annäherndes Begreifen auf Seiten des Publikums der fragilen Lebenswirklichkeiten anderer zu erreichen. In unserem Europa heute ist Kulturverständigung auf vielen, eben auch der poetischen Ebene immens wichtig und versöhnlich.

Worüber schreiben die Dichtenden einer Kriegs- und Nachkriegsgeneration aus den ehemaligen Balkanländern? Über den Krieg, über die „Gespenster“ des Krieges, über das Verdrängen der Vergangenheit, über neue Realitäten. In der Prosa sei dies schon vielfach geschehen, in der Lyrik kaum, sagen die beiden, die sich bis zu diesem Abend nie begegnet sind. Ihr Gespräch über unterschiedliche ästhetische Positionen ist in dem Moment genauso packend und notwendig wie die Informationsvermittlung über Landesgrenzen hinaus. Als hervorragende Mittlerin zwischen den Sprachen ist die Konferenzdolmetscherin Mascha Dabić zu erwähnen.

Mladenović und Sehič lesen aus ihren Werken auf Serbisch bzw. Bosnisch, was für eine Sprachunkundige zunächst völlig fremd und nur nach rollenden r’s und sch-Lauten klingt, nach einer Weile wird einem das Gehörte vertrauter, wohinter einmal mehr die Kraft der Poesie steckt. Anhand der von einem Sprecher vorgetragenen deutschen Übersetzungen gelingt nicht gleich die Deutung der Gedichte, spannender erscheint es jetzt, Original und Übersetzung in Einklang zu bringen: In ihrer doppelten Lesung, quasi ihrer Wiederholung, leben die poetischen Texte wie neu auf und gewinnen an Intensität und Präsenz, obwohl wir es mit einem schönen Trick zu tun haben.

Foto: Amer Kuhinja

Abzeichen aus Fleisch

Faruk Sehič, in Sarajevo lebender Journalist, nahm als 22-Jähriger von 1992 bis 1995 am Krieg teil. Vom Gesehenen und Erlebten und der Zeit danach sprechen seine Gedichte in dem Band „Abzeichen aus Fleisch“ als von den bösesten Kriegstraumata. Für seine eigene Ergriffenheit und die Schwere seiner Gedichte entschuldigt sich der Lyriker beim Publikum. Die Zeit sei aufgearbeitet mit den Gedichten, sagt er. Es sei vorbei. Ich glaube es nicht, sie ist ja wieder da, die Zeit, und die Gedichte sind nicht schwer, sie sind einfach erschreckend wahr und gewaltig in ihrer Sprache. Es mag ein Irrtum sein zu denken, vom Krieg wollte niemand mehr hören. Der Form der Lyrik, die Sehič gefunden hat, um über ihn zu sprechen, kann man sehr wohl hören oder lesen. Die Lesung endet mit einem Gedicht, einer Art Geständnisbrief, über diese merkwürdige Medienfigur Oprah Winfrey. Zur Erholung will man lachen, das Lachen bleibt zynisch. Gibt ja auch im Westen keine Helden.

Verwandtschaft

Der Gedichtband von Dragana Mladenović heißt „Verwandtschaft“ und besteht aus drei formal sich unterscheidenden Zyklen. Inhaltlich werden sie dagegen eng geführt, durchdringen sich, spiegeln sich, wie sich zeigt. Das wirkt überkonstruiert, geht aber künstlerisch auf. Es sind subtil in sich kreiselnde Beschreibungen einer serbischen (Teil 1) und einer bosnischen (Teil 3) Familie im Amsterdamer Exil, über denen doch die gleichen Schatten liegen. Der Krieg ist in diesem Buch Vergangenheit, geblieben sind seine Fratze und die Verlierer auf beiden Seiten. Die moralischen und physischen wie psychischen Kriegsversehrungen der Charaktere mögen unterschiedlicher Art sein, die drängenden Fragen an Zukunft ähneln sich. Mladenović leuchtet die Fratze aus, wie selbstverständlich, mit klaren Worten. Die 34-jährige Autorin war nicht im Krieg, aber sie erlebt Nachkriegszeit, serbische Realität, Wirtschafts- und Wohnungsnot, den gestörten Umgang der Lebenden mit ihren Toten. Sie lebt in der Nähe von Belgrad als Kulturjournalistin und veröffentlichte seit 2003 sechs preisgekrönte Gedichtbände. Gerade die poetischen Verfahren und die poetische Andeutung bedeuteten ihr willkommene Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks. Darin sehe sie ihr Experimentierfeld.

Foto: Nebojsa Babic

Erster Teil

Verwandtschaft bedeutet ein Familiengefüge, das starke genetische Verzweigungen mit Onkeln und Tanten annehmen kann. Ob die Verwandtschaft einem lieb und wert ist, ist eine andere Frage. Sie ist da, hält zusammen wie Pech und Schwefel, und zwar einmal mehr dort, wo Generationen infolge des Krieges auseinandergerissen wurden oder verschwanden. Die, die noch da sind, rotten sich sippenhaft zusammen. Nicht immer sind die Voraussetzungen für ein hohes Verwandtschaftsaufkommen gegeben, wie im ersten Teil des Buches deutlich wird. Man kann sich aber auch auf emotionale Weise einer Idee, einer Sache verwandt fühlen.

Souverän umspielt Dragana Mladenović in ihrem Band die verschiedenen Tönungen des Begriffs und lässt ihn in eine poetisch-bissige Gesellschaftsbeschreibung münden. Stilistisch geht die Dichterin eigenwillig vor, vorzugsweise mit der Syntax, die sie geschmeidig auf- bzw. umbricht. Das sprachlich Fließende wird verstärkt durch die radikale Kleinschreibung und den Verzicht auf jegliche Interpunktion. Keine Textstelle bekommt eine besondere Gewichtung, von Wiederholungen an bestimmten Stellen abgesehen.

Im ersten Teil wird eine formale Ordnung über dräuendes Unheil gebreitet, auf knapp 30 Seiten werden einer Aufzählung gleich die kurzen Texthappen von erstens bis 61 durchnummeriert, also pro Seite ein bis drei. Sie zeichnen das dichte Bild einer serbischen Familie als Mikrofamilienchronik kurz vor ihrem Auseinanderbrechen.

„7. //ich heiße mila/ bin 30 jahre alt/ habe eine familie/ wir sind zu sechst/ (die verstorbene großmutter und ihre/ eingeschläferte katze nicht eingerechnet)/ in einer engen Wohnung …//.“ Eine Familie, „in der die Lüge wie eine persische Katze schon immer gelebt hat“. Wohnung und Mila sind die Zentren einer Familie, in der noch immer die Lüge wohnt und als deren Symptom nicht nur der kränkliche und schwache Zustand von Mila anzusehen ist. Mit der Lüge wird Verbrechen ebenso verbunden wie Verleugnung und Verrat, und jedes Familienmitglied trägt seinen eigenen Dämon mit sich herum. Die beengte Wohnung wird zum Schauplatz eines Kammerspiels aus Zerrüttung, Schmerz und Hilflosigkeit – Verwandtschaft zur leeren Hülse.

Als ein Gast, Tiodor, vom Onkel Voja in die Familie gebracht wird, „weil er ein serbe war“, ändern sich schlagartig die häuslichen Konstellationen, Verwandtschaft wird jetzt erzwungen und auf eine ganze Nation ausgedehnt. „//wir sind wie eine familie zusammengekommen/ und haben einen gast empfangen/ wie einen verwandten/ sagt onkel voja …//.“

Teil 2

Der zweite und der dritte Zyklus komplettieren den Band auf ebenso eigenwillige und verstörende Weise. In Teil zwei, einem pervertierten Verhör, begegnen wir den Figuren Tiodor und Onkel Voja aus Teil eins wieder. Die Anzeige eines Mannes gegen den Kriegsverbrecher Tiodor entpuppt sich als bitterböser Schabernack mit dem Wert der Selbstbestimmung und Verantwortung des Gegenübers. Der Verhörende modelt fast unbemerkt das Verhör um in ein vertrauliches Treffen unter zwei Duzverwandten und dreht dem Anzeigenerstatter durch sein schnell abgefeuertes, suggestives Frage-und-Antwort-Spiel die Worte im Mund herum. Zum Abschluss wird dieser schlichtweg für paranoid erklärt. Aus Wahrheit wird Lüge in einem System, das mit seinen Kriegsschurken nicht ins Gericht geht. Das Verstecken im Schutz der Verwandtschaft, welche Gesellschaft kann das wirklich verantworten?

Messe, da bin ich wieder

Bei meiner Stippvisite der Messe war ich also gerade dabei, mich in einer der vielen Schulklassen zu verheddern (nicht in einer Schlange, sondern in einer Horde), die an diesem Tag zu Besuch waren, als ich an dem Verlagsstand anlangte, zu dem ich wollte, vielleicht nicht ganz so flüchtig. Der literarische Verlag Jung und Jung aus Salzburg verwandelte sich in dem Moment in einen Ort der Stille, kein Schüler wagte sich über seine Schwelle. Mit Jochen Jung, dem Verleger aus dem hohen deutschen Norden, spreche ich über seinen etwas mehr als zehn Jahre alten Verlag, seine verlegerische Herkunft und drei seiner Titel. Das ist eben auch Buchmesse: Zu Jung und Jung kämen fast nur die Besucher, die auch Jung und Jung läsen, Krise hin oder her. Die ausgewählten Titel fasse ich auf als zeitlose Blütenlese aus einem interessanten und wählerischen Verlag und stelle in der nächsten LitMag-Ausgabe 2012 vor: „Schaufenster im Frühling“ von Melinda Nadj Abonji; „Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen“ von Xaver Bayer sowie Jean-Pierre Abrahams „Leuchtturm“ und nenne das Ganze Messeexkurs 2: Prosablütenlese bei Jung und Jung.

Senta Wagner

Dragana Mladenović: Verwandtschaft. Serbisch/Deutsch. Aus dem Serbischen von Jelena Dabić. Wien: Edition Korrespondenzen 2011. 152 Seiten. 16,00 Euro. Eine Leseprobe finden Sie hier.
Faruk Šehič: Abzeichen aus Fleisch. Bosnisch/Deutsch. Aus dem Bosnischen von Hana Stojič. Wien: Edition Korrespondenzen 2011. 160 Seiten. 16,00 Euro. Eine Leseprobe finden Sie hier.

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