Geschrieben am 22. Mai 2013 von für Kolumnen und Themen, Lichtjahre später, Litmag

Aleks Scholz: Lichtjahre später (16)

Aleks Scholz ist Autor und Astronom. In seiner Kolumne „Lichtjahre später“ erklärt er regelmäßig alles, was wir über das Universum wissen müssen. Seit Januar 2013 befindet er sich auf einer Irrfahrt über den Nachthimmel. Heute: Der Coma-Galaxienhaufen.

Aleks Scholz. Foto: Ira Struebel

Aleks Scholz. Foto: Ira Struebel

Bending the Map: Die Coma-Wiegung

“Everything under heaven is chaos; the situation is excellent.
Mao Tse-Tung

Wenn man an einem Frühlingsabend nach Einbruch der Dunkelheit nach oben blickt, dann sieht man vor allem: nichts. Zwischen dem Hinterteil des Löwen im Westen und dem superhellen Arktur im Osten, direkt unter der Deichsel des Großen Wagens, verbergen sich zwei obskure Konstellationen, mit denen man bei Name-Stadt-Sternbild abräumen kann: die Jagdhunde und das Haar der Berenike. In einer Gegend, die ein Zehntel des gesamten Frühlingshimmels einnimmt, sieht man mit bloßem Auge nur einen einzigen mäßig hellen Stern.

Die Leere im Haar der Berenike ist kein Zufall. Alle Sterne, die wir am Nachthimmel sehen,  gehören zu einem einzigen großen scheibenförmigen System, der Milchstraße. Je weiter man sich von der Scheibe entfernt, umso mehr dünnen die Sterne aus. Hier, im Haar der Berenike, liegt der „galaktische Nordpol“, der Punkt, der am Himmel am weitesten von der Milchstraße entfernt ist. Coma Berenices ist die Arktis des Himmels.

In unmittelbarer Nähe des Nordpols befindet sich der Coma-Galaxienhaufen – mehr als tausend Galaxien auf engem Raum versammelt, zum ersten Mal bemerkt, natürlich, von William Herschel im Jahr 1785. Die Liste der Himmelsobjekte, die zum ersten Mal von Herschel bemerkt wurden, ist lang. Im Zentrum des Coma-Haufens zwei Riesengalaxien, elliptische Sternensysteme, jeweils zehnmal so groß wie die Milchstraße, dreihundert Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt. Alle Galaxien im Coma-Haufen bewegen sich durcheinander, mit Geschwindigkeiten von tausend, zweitausend Kilometern pro Sekunde. Dem Schweizer Fritz Zwicky fiel im Jahr 1933 zum ersten Mal auf, dass mit diesen hohen Geschwindigkeiten etwas nicht stimmen kann.

Coma Galaxienhaufen

Der Coma-Galaxienhaufen. Ein Bild – hundert Galaxien (und ein einziger Stern, das helle Ding mit dem blauen Halo). Quelle: Digital Sky Survey

Es gibt eine alte Regel der Mechanik, die gebietet, dass in einem System wie dem Coma-Haufen die Bewegungsenergie der Teile im Gleichgewicht zur Gravitationsenergie des Ganzen stehen muss. Die Gravitation, vulgo Schwerkraft, ist der Klebstoff, der den Haufen zusammenhält; würden sich die Teile zu schnell bewegen, dann flögen sie auseinander. Die Galaxien wären über den Himmel verstreut, es gäbe keinen Coma-Haufen. Zwicky bemerkte, dass sich die Galaxien im Coma-Haufen zu schnell bewegen, um zusammenbleiben zu können, nicht nur ein bisschen, sondern viel zu schnell. „Falls sich dies bewahrheiten sollte“, so Zwicky, „würde sich also das überraschende Resultat ergeben, dass dunkle Materie in sehr viel größerer Dichte vorhanden ist als leuchtende Materie.“ Denn mehr Materie bedeutet mehr Masse, mehr Schwerkraft, mehr Klebstoff. Hier fällt zum ersten Mal in der astronomischen Literatur der Begriff von der dunklen Materie, die viel später, in den 1970ern, zur Dunklen Materie wird, großes D. Dunkle Materie rettet den Coma-Haufen vor dem Zerfallen.

Zwicky hat eines mit Herschel gemeinsam: Er war seiner Zeit weit voraus. Wenn heute über ein astronomisches Problem geredet wird, lautet der erste Satz oft: „Zwicky kam da irgendwie schon vor vielen Jahren drauf, aber keiner hat zugehört“. Die Dunkle Materie ist so ein Fall. Zwickys Entdeckung sieht eher wie eine Randbemerkung aus, sie erscheint zum ersten Mal in einer Abhandlung, in der es eigentlich um etwas ganz anderes geht, nämlich um Rotverschiebungen. Dunkle Materie, er wirft es einfach so raus. Bis zu seinem Tod im Jahr 1973 blieb die Suche nach Dunkler Materie ein Exotenthema, heute beherrscht sie ganze Institute. Große Laboratorien werden in Berge gezimmert, um die mysteriösen Teilchen zu finden, aus denen die unsichtbaren vier Fünftel des Universums bestehen. Kilometertiefe Löcher werden ins Eis des Südpols gebohrt, dort, wo Scott „God, what an awful place“ sagte. Teleskope werden gebaut. Lebensläufe umgelenkt. Milliarden ausgegeben. Karrieren, Sorgen, Hoffnungen wachsen aus der Dunklen Materie. „Zwicky kümmerte sich wahrscheinlich nicht darum, ob ihm Leute glaubten oder nicht“, so heißt es in einem Nachruf. „Zwicky wusste es.“

Aber man sollte sich noch einmal genauer ansehen, was in diesem Text von Zwicky aus dem Jahr 1933 geschehen ist. Was hier aufgedeckt wird, ist eine Diskrepanz zwischen dem, was am Himmel beobachtet wird, und einer Erwartung, wie die Welt zu sein hat. Diese Erwartung wiederum beruht auf einem Modell von der Schwerkraft, das zurückgeht auf Newtons „Principia“. Zwicky hat Optionen, genauer gesagt zwei, er kann entweder das Modell von der Schwerkraft verwerfen. Oder er kann behaupten, dass der Coma-Haufen voll ist mit unsichtbarem, unbekanntem Zeug. Ohne zu Zögern, ohne auch nur zu erwähnen, dass es eine Alternative gibt, entscheidet er sich für die zweite Variante. Der Grund liegt auf der Hand: Er hat großes Vertrauen in das Modell der Schwerkraft, immerhin ein Modell, das sich über Jahrhunderte bewährt hat, millionenfach. Überall, wo man hinsieht, funktioniert es. Es ist nicht nur Zwicky, der Vertrauen in Newtons Schwerkraft hat; Heerscharen von Astronomen und Physikern folgen ihm. Geduldig bohren sie Löcher in das antarktische Eis, ohne je an Newton zu zweifeln.*

Ein Vorgang, für den es sogar eine cleveren Namen gibt: Bending the Map. Ein Begriff, der aus einem völlig anderen Kontext stammt, und zwar aus dem Überlebenskampf. In seinem Buch „Deep Survival“, das den vielversprechenden Untertitel „who lives, who dies, and why“ trägt, erzählt der Amerikaner Lawrence Gonzales davon, was in den Köpfen von Menschen abläuft, die in Extremsituationen geraten. Zum Beispiel in den Köpfen von Verirrten. Zu wissen, wo man sich befindet, ist eine zentrale Aufgabe des Gehirns, denn wer nicht weiß, wo er ist, wird irgendwann verhungern oder verdursten. Das Hirn trägt daher ein Modell der Außenwelt mit sich herum, eine „innere Landkarte“, gespickt mit Bildern, Erinnerungen, Gefühlen, eine Art unordentliches Google Maps. Im Idealzustand passt der Strom aus Informationen, den man über die Außenwelt erhält, zur inneren Landkarte. Verirrtsein ist eine kognitive Dissonanz, eine Diskrepanz zwischen Innen- und Außenwelt, das Versagen des Modells, das man von der Umgebung hat.**

Aber genau wie Zwicky Vertrauen in sein Modell hat und es nicht sofort wegwirft, halten Verirrte oft lange an ihren inneren Landkarten fest, auch wenn die Zeichen schon einige Zeit an der Wand stehen. Sie lügen sich selbst an. Sie „verbiegen“ die Landkarte – Bending the Map. Sie behaupten, dass aus dem winzigen Bach, der in der Karte eingezeichnet ist, über Nacht ein reißender Fluss geworden ist. Sie übersehen ganze Berge. Sie erfinden Dinge, nicht unbedingt Dunkle Materie, aber zum Beispiel Wege, wo keine sind. Sie bestehen darauf, ganz genau zu wissen, wo man sich befindet. Sie sind temporär wahnsinnig geworden. Sie sagen Dinge wie „wird schon stimmen“ oder „sind sicher gleich da“. Nur um die innere Landkarte, in die sie so viel Mühe investiert haben, noch eine Weile zu retten.

Bending the Map ist ein Prozess, der immer dann abläuft, wenn sich eine Diskrepanz zwischen Innen- und Außenwelt einstellt. Es handelt sich um ein Knirschen im Weltbild, irgendwas stimmt nicht, aber man versucht, trotzdem wie gewohnt weiterzumachen. Man klebt ein Pflaster auf die wunde Stelle und nennt es „Anomalie“. Natürlich begeht man damit einen Fehler, ob bewusst oder unbewusst, aber einen kalkulierten Fehler, der dazu dient, ein Weltbild noch eine Weile bewahren. Dunkle Materie ist ein Fehler, es handelt sich um temporären Wahnsinn, aber immerhin konstruktiven Wahnsinn. Denn Bending the Map ist ein konservativer, gesunder Prozess. Wer beim kleinsten Zweifel alles über Bord wirft, steht vollkommen ohne Modell da, gerät in Panik und kommt keinen Schritt weiter. Keine innere Landkarte, kein Modell von der Umgebung zu haben, ist gefährlich. Man benötigt sowohl beim Orientieren im Stadtpark als auch beim Betrachten von Galaxien ein Mindestmaß an Vertrauen in seine Ideen. Bending the Map ist die Methode, die dieses Vertrauen rationalisiert. Es ist eine Methode zur Navigation in unsicheren Gewässern. Unsicherheit ist das Medium, in dem sowohl der Wissenschaftler als auch der Verirrte operieren.

Die entscheidende Frage ist natürlich, wie viel Vertrauen angebracht ist, und hier liegt der Unterschied zwischen dem Verirren im Stadtpark und der Entdeckung der Dunklen Materie. Newtons Gravitationstheorie ist leider viel besser, viel präziser, und viel bewährter als die inneren Landkarten, die wir von den meisten Gegenden der Welt im Kopf herumtragen, einzige Ausnahme vielleicht das eigene Schlafzimmer. Es gibt auch keine funktionsfähige, bessere Alternative zur Gravitationstheorie, die man stattdessen verwenden könnte. Manchmal behält der Landkartenverbieger am Ende Recht, und die Wahrscheinlichkeit ist umso größer, je besser das Modell ist, an dem er sich festhält, je robuster die Planke ist, an die er sich nach dem Schiffbruch klammert.  Zwicky hatte einwandfrei Recht. Die allermeisten Verirrten haben Unrecht. Dunkle Materie gibt es, den eingebildeten Pfad nicht.

Und es ist nicht nur Zwicky und sein Coma-Haufen. Überall in der Astronomie, überall am Himmel, sieht man dasselbe Denkmuster. Zehn Generationen von Wissenschaftlern, die das Kant-Laplace-Modell vom Sonnensystem, das aus einem Nebel entsteht, aufrechterhalten, obwohl es immer und immer wieder auf Schwierigkeiten stößt –  Bending the Map. Auch so ein Fall übrigens, in dem sie am Ende Recht behielten. Hermann von Helmholtz, der 1854 vorschlägt, dass die Sonne scheint, weil sie sich langsam zusammenzieht, ein Prozess, von dem schon im 19. Jahrhundert klar war, dass er nicht lang genug Energie liefert. Das Modell falsch, das Weltbild knirscht, alle wissen es, ein großartiger Fehler, den man offen eingesteht, und doch hält man solange an diesem Fehler fest, bis es Hoffnung auf etwas Besseres gibt. Wie Irre, die durch die Nacht taumeln und die Sonnenbrille noch aufhaben. Bending the Map. Und so weiter. Die Zeitskalen der Erkenntnisgewinnung mögen sehr verschieden sein, die Art der Probleme auch, aber das Muster der Problemlösung ist dasselbe. Überall verbiegen sich die Landkarten.

Eventuell ist Wissenschaft nichts anderes als Verirren.

Aleks Scholz

* Unerwähnt bleibt hier, dass Zweifel an Newtons Gravitationsformel natürlich berechtigt sind, wenn man sich mit unsäglich hohen Geschwindigkeiten befasst. Dann nämlich spielen relativistische Effekte eine Rolle, Newton versagt jämmerlich, Einstein kommt ins Spiel. Für den hier besprochenen Effekt ist die Relativitätstheorie jedoch nicht relevant: tausend Kilometer pro Sekunde ist immer noch entsetzlich langsam im Vergleich zur Lichtgeschwindigkeit.

** Mehr dazu in der einzigen deutschsprachigen Monographie zum Thema: „Verirren – eine Anleitung für Anfänger und Fortgeschrittene“, Kathrin Passig & Aleks Scholz, Rowohlt Berlin 2010. 272 Seiten. 18.95 Euro.

Der Nachthimmel im Internet, zum Nachvollziehen der Reise.

Aleks Scholz, geboren 1975, ist Astronom und Schroedinger Fellow am „Institute for Advanced Studies“ in Dublin, Irland. Er befasst sich vorwiegend mit der Entstehung und der Entwicklung von Gelben, Roten und Braunen Zwergen. Foto: Ira Struebel. Aleks Scholz bei Google+.

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